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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 27.03.2012


Ulla Lenze - Der kleine Rest des Todes
Katja Schickel

Die in Berlin lebende Autorin zieht uns in ihrem brillanten Roman in den Sog einer tiefen Erschütterung, erzählt hautnah von Schmerz, Verzweiflung und Wut nach dem Tod eines geliebten Menschen.




Was jetzt ist

Der Vater, ein Hobbyflieger, ist unter noch ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Ariane, Lieblingstochter, Papa-Kind, fällt ins Bodenlose ihrer Trauer. In ihrem eigenen Absturz, der von außen als solcher wahrgenommen und kommentiert wird, manifestiert sich einerseits die eher unbewusste Identifikation mit dem Vater in seinen letzten Augenblicken, andererseits auch ihr eigenes heilloses Durcheinander. Wie ist er gestorben? War es Unachtsamkeit, so genanntes menschliches Versagen oder doch technisches? Lauter Fragen, die nicht beantwortet werden, bis hin zu der einen besonders quälenden, ob der Unfall gar inszenierter Selbstmord war.

Der Tod ist eine Niederlage. Vor allem für die Lebenden, die Hinterbliebenen. Trotz des Wissens, dass alle Menschen sterblich sind, will ein Rest in uns diese Tatsache nicht akzeptieren, rebelliert gegen diese Erkenntnis und versucht sich mit gesteigerter Umtriebigkeit zu wappnen. Ulla Lenze erzählt von der Leere und Einsamkeit, die der Verlust in Ariane hinterlässt. Ihre Verzweiflung ist buchstäblich grenzenlos und irritiert zunehmend ihre Umwelt: ihre beste Freundin Beatrice, die nie da ist, wenn sie sie braucht, ihre vermeintlich nur pragmatische Schwester Svenja und die kaum präsente Mutter, die sich beide um die banale organisatorische und bürokratische Abwicklung des Todesfalls kümmern, den Exfreund, der in Liebesdingen schon längst anderweitig unterwegs ist, und sich in seinem neuen Glück nicht stören lassen will, den Geliebten, der sich durch ihre unkontrollierten Gefühlsaufwallungen beeinträchtigt fühlt und zunehmend genervt reagiert. Sie findet keinen Halt mehr.

In ihrem Schmerz, mit ihren Ängsten ist sie allein, wie jeder andere Mensch auch. Der Spagat zwischen der Forderung, sich vernünftig und konform zu verhalten wie alle anderen und der Ahnung, sich durch ihre widerstreitenden Gefühle durchzuschlagen, sie zunächst allerdings erst einmal zulassen zu müssen, gelingt ihr immer weniger. Eine unbekannte Region lässt sich aber erst entdecken, wenn eine/r durch sie hindurchgeht und sich auf ihre Unwägbarkeiten, ihre Unwirtlichkeit, auf mögliche Durststrecken und Desaster eingelassen hat.

Mit den gesellschaftlich akzeptierten Trauerritualen kann Ariane nichts anfangen. Über Tote nur Gutes. Nach dem Ableben eines Menschen soll alles schnell und effektiv über die Bühne gehen. Die Koordinaten stehen fest. Raum, Zeit, Ordnung der Trauer. Weil man sich negativen Gefühlen nicht stellen will, wird Anteilnahme gerne inszeniert. Dabei hat sich da jemand einfach entzogen, Andere im Stich gelassen, sie verlassen. Der emotionale Ausnahmezustand, die Überwältigung kommt meist nicht zur Sprache. Ariane muss sich selbst aber in jedem Augenblick fragen, was jetzt ist, was real ist, und was geblieben ist von all ihren Plänen und Möglichkeiten, von ihrem bisherigen Leben. Der Adressat ihrer wirren Gedanken, ihrer Liebe und Wut wird jedoch nie wieder antworten. Plötzlich ist sie in einem dunklen schwarzen Loch gelandet und findet nicht wieder heraus. Muss sich schlaflos wälzen und weinen und schreien. Wie unter Zwang. Wie im Rausch. Gedanken überwältigen und besetzen sie, zur Abwehr fehlt ihr jede Kraft. Sie fühlt sich fremd, so als gehöre ihr Schmerz gar nicht zu ihr, als könne nur der gestorbene Vater sie verstehen. Der Tote ist auf quälende und gleichzeitig verheißungsvolle Weise präsent: sein Geruch hängt immer noch in den Kleidern, seine Stimme spricht aus dem Anrufbeantworter, Erinnerungen an gemeinsame, manchmal schon vergessen geglaubte Erlebnisse tauchen überfallartig auf. Sie will sie nicht verdrängen, sondern in diesen Bildern bleiben. Sie zieht Kleidungstücke des Vaters an, um sie nicht ansehen zu müssen. Sie möchte keine körperliche Distanz schaffen, sondern seine Nähe spüren, sich in sie – wie in eine zweite Haut - einhüllen. Sie konfrontiert sich mit dem Unglücksort, um sich zu verabschieden und mit dem Toten verbunden zu bleiben.

Die poetischen und scharf konturierten Großstadt- und Landschaftsbilder, die Ulla Lenze entwirft, zeigen die Verlorenheit ihrer Protagonistin, aber auch deren Suche nach einem neuen, anderen Lebensgefühl: „nicht mehr Ankunft, noch nicht Aufbruch.“

AVIVA-Tipp: "Der kleine Rest des Todes" ist kein Therapiebuch für Hinterbliebene, sondern ein Roman über Grenzerfahrungen auf dem unbekannten Terrain zwischen Leben und Tod. Gekonnt entgeht die Autorin jedem Anflug von Kitsch oder falschem Pathos. In den Beschreibungen der ProtagonistInnen lakonisch und (selbst-)ironisch erzählt, entfalten vor allem die atmosphärisch dichten Passagen über den Verlust menschlicher Nähe und Zuneigung, die körperlichen und seelischen Reaktionen darauf, die krisenhafte Zuspitzung der Ereignisse, einen eigenartigen Sog, dem man sich – trotz des heiklen Stoffs – nicht so leicht entziehen kann.

Zur Autorin: Ulla Lenze, geboren 1973 in Mönchengladbach, Studium der Schulmusik und Philosophie in Köln, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. 2003 erschien ihr Debütroman Schwester und Bruder, für den sie mehrere Preise und Stipendien erhielt, 2008 der Roman Archanu.
Für Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit, Brigitte und die FAZ schrieb sie Reisereportagen aus Libyen, Syrien, Indien, Iran und den Emiraten, 2009 war sie drei Monate Writer-in-Residence in Istanbul, 2010 neun Monate in Mumbai, finanziert vom Goethe-Institut und der Kunststiftung NRW. Für 2012 erhält sie das Heinrich-Heine-Stipendium Lüneburg.
(Verkürzte Zusammenstellung aus: Homepage der Autorin)
Weitere Infos und Kontakt unter: ullalenze.de

Ulla Lenze
Der kleine Rest des Todes

Frankfurter Verlagsanstalt, erschienen März 2012
18,90 Euro
160 Seiten, geb.
ISBN 978-3-627-00179-7

Weitere Infos zur Rezensentin Katja Schickel finden Sie unter:

www.letnapark-prager-kleine-seiten.com

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Beitrag vom 27.03.2012

AVIVA-Redaktion