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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.12.2012


Yoko Ogawa - Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Claire Horst

Ganz leise steigt die japanische Autorin Yoko Ogawa in ihre Erzählung ein und bereitet so auf den Ton ihres Textes vor. Wie eine still am Kamin erzählte Geschichte liest sich "Das Geheimnis der...




... Eulerschen Formel", ihr bereits 2003 in Japan erschienener Roman.

"Wir nannten ihn den Professor. Und er taufte meinen Sohn `Root`, weil ihn sein flacher Schädel an das Dach eines mathematischen Wurzelzeichens erinnerte." Mit diesen Eingangssätzen führt Ogawa fast das gesamte Personal ihres Romans ein und bereitet zugleich auf das Leitthema vor: die Mathematik.

Die Handlung ist schnell erzählt: Die namenlose Ich-Erzählerin tritt eine neue Stelle als Haushälterin an. Ihr Arbeitgeber ist ein ehemaliger Mathematikprofessor, der nach einem Autounfall nur noch über ein Kurzzeitgedächtnis von 80 Minuten verfügt. Orientieren kann der Professor sich nur, indem er zahllose kleine Zettelchen an seiner Kleidung befestigt. Neue Haushälterin und ihr zehnjähriger Sohn oder Meine Erinnerung dauert nur 80 Minuten steht darauf.

Anders als ihre acht Vorgängerinnen hält die Erzählerin es lange in ihrer Stellung aus – und das, obwohl die Schwägerin des Professors, eine geheimnisvolle und abweisende Witwe, sie aus dem Nachbarhaus ständig beobachtet und dennoch nie für sie zu erreichen ist. Es gelingt ihr, eine tiefe Beziehung zu ihrem Arbeitgeber aufzubauen, obwohl dieser sich nie an sie erinnern kann. Die Verbindung zwischen ihnen, der Frau aus einfachen Verhältnissen und ohne weitreichende Bildung, und dem verschrobenen Wissenschaftler, baut sich über die Mathematik auf.

Es ist ein Tic des Professors, in jeder Zahl eine verborgene Bedeutung zu sehen. So erklärt er seiner Haushälterin beim ersten Treffen den Zusammenhang zwischen ihrem Geburtstag und der Zahl, die auf seiner Armbanduhr eingraviert ist. Mit ihr erfahren die LeserInnen vieles über die Magie der Primzahlen, das Geheimnis befreundeter Zahlen und natürlich die Eulersche Formel

Mit dem gleichen feinen Gespür für Schönheit, mit dem Ogawa Landschaften, Stimmungen oder einfach eine Zimmereinrichtung beschreibt, widmet sie sich auch den Zahlen. Und so ist dies eigentlich kein Roman über eine unmögliche Freundschaft oder über die Beziehung einer alleinstehenden Mutter zu ihrem Kind, für das sie viel zu wenig Zeit hat – sondern einer über die Schönheit des Verborgenen. Die dramatische Familiengeschichte der Erzählerin wird demnach auch in wenigen Sätzen abgehandelt.

Einsamkeit zeichnet sowohl den Professor wie die Haushälterin aus. Bei Ogawa gewinnt diese Einsamkeit jedoch etwas Poetisches, und um die Ruhe und Stille, mit der die Protagonistin sich den kleinen Dingen ihres Lebens widmet, ist fast beneidenswert. Ihre wachsende Faszination für die Mathematik, die Ausführungen des Professors, der mit fast religiöser Überzeugung in seinen Formeln Erklärungen für alle Fragen der Existenz findet, sind anrührend.

"Ich legte das Steuerformular auf den Tisch, tauchte den Mopp in das trübe Wasser des Putzeimers und wrang ihn aus. Es blieb alles beim Alten, egal ob ich herausfand, ob eine Zahl nun eine Primzahl war oder nicht. Noch immer türmte sich ein Berg von Arbeit vor mir auf, die erledigt werden musste." Aus solchen Momenten der Verzweiflung rettet sie der Professor mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Mathematik. `Sie müssen keine Angst haben´, sagte er zu mir und streichelte meine Hand. ´Das Wurzelzeichen ist sehr solide. Es gewährt allen Zahlen Zuflucht und Schutz.´

AVIVA-Tipp: Ein wunderschön still erzählter Roman, der zugleich von der Freundschaft und von der Faszination für Mathematik erzählt. Ogawa gelingt das Kunststück, sowohl der Einsamkeit als auch abstrakten Formeln Schönheit abzugewinnen.

Zur Autorin: Yoko Ogawa gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun´ichiro-Preis. Für ihren Roman "Das Geheimnis der Eulerschen Formel" erhielt sie den begehrten Yomiuri- Preis. Bei Liebeskind erschienen u. a. die Romane "Der zerbrochene Schmetterling", "Hotel Iris", "Das Museum der Stille" und "Das Ende des Bengalischen Tigers". Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo. (Verlagsinformationen)

Yoko Ogawa
Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
256 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag
Liebeskind Verlag, erschienen 2012
ISBN 978-3-935890-88-5
18,90 Euro

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Beitrag vom 07.12.2012

Claire Horst