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Beitrag vom 13.11.2013
Joanna Bator – Wolkenfern
Bärbel Gerdes
Mit ihrem Roman um zwei starke Frauen entfaltet die mehrfach ausgezeichnete polnische Autorin ("Sandberg") erneut ihr erzählerisches und kompositorisches Können. Virtuos übersetzt von Esther Kinsky
Der Griff nach einem Roman entspringt oft der Sehnsucht nach selbstvergessenem Lesen, jenem Lesen, bei dem wir Zeit und Raum hinter uns lassen, bei dem wir klug unterhalten werden und sprachlich verwöhnt, das uns zum Denken anregt.
Bereits mit ihrem mit Preisen überhäuften Roman Sandberg präsentierte sich die polnische Autorin Joanna Bator als meisterhafte Erzählerin. Überbordende Phantasie verknüpft sie mit historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, alles greift in- und übereinander, verästelt sich zu vielen kleinen Geschichten, die doch immer wieder zusammenlaufen.
Auch in ihrem Roman Wolkenfern gibt es neben dem Hauptstrang unzählige Abzweigungen, die jedoch so geschickt miteinander verwoben sind, dass mensch nie die Orientierung verliert.
Dominika liegt nach einem schweren Verkehrsunfall in einer Münchener Spezialklinik im Koma, ins Leben zurückgesungen und –geredet von ihrer Mutter, die sich das erste Mal in der BeErDe befindet, jenem Land, das sie nur aus dem Otto-Katalog kennt.
Anders als gedacht, kehrt Dominika nach ihrem Erwachen nicht nach Polen zurück, sondern bricht mit ihrer Krankenschwester zu einer Reise auf, die sie schließlich nach New York führt.
Dominikas Krankenhausaufenthalt ermöglichte Grazynka Rozpuch, eine alte Familienfreundin, die als Baby vor der Tür eines Frauenpaares, den Teetanten ausgesetzt wurde. Die beiden Frauen, die als Schwestern oder Cousinen ins Dorf kamen, von denen aber bald geargwöhnt wird, dass sie in gar keinem richtigen Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen, werden nach anfänglicher Skepsis in die Gesellschaft integriert. "An denen, die anders sind als sie, stutzen sie so lange herum, bis sie zurechtgestutzt und ihnen ähnlich sind, und dann denken sie sich für sie einen heimeligen Namen aus [...] und sogleich geht es ihnen besser, denn nichts ist so schlimm wie etwas Unbenanntes."
Als die SS in den Ort einzieht, verstecken die beiden Frauen Grazynka in einem Kloster, sie selbst werden verhaftet. Aus dem KZ zurückgekehrt, finden sie die DorfbewohnerInnen im Streit um die Häuser und Besitztümer der jüdischen NachbarInnen vor, TäterInnen und Opfer leben Tür an Tür.
Joanna Bators Roman beeindruckt nicht nur durch seine poetische, bildhafte und sinnliche Sprache, sondern ganz besonders durch sein Personal. Noch die unscheinbarste Nebenfigur wird mit einer sich von anderen abhebenden Persönlichkeit ausgestattet. Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß, nicht nur Gut oder Böse. Wundersame Menschen begegnen uns: der Fotograf, der auf seinen Fotos den Tod der Porträtierten darstellen kann, der sadistische jüdische Friseur, der sich im KZ an der Angst der Frauen labt, die Emigrantin, der Dominika täglich die Odyssee vorliest.
Im Vordergrund aber stehen starke Frauen, deren Präsenz die der Männer armselig aussehen lässt. Frauen wie Grazynka, die nicht genau weiß, welches ihrer Kinder von welchem Mann ist, der dies aber auch unwichtig ist, Sara, die schwarze Krankenschwester, die irgendwann in Grazynkas kleinem Dorf auftaucht, Frauen, die kurzerhand einen Mann vergiften und ihn beseitigen.
Esther Kinsky, die aus dem Englischen, Russischen und Polnischen übersetzt und selbst als Schriftstellerin veröffentlicht, hat auch diesen Roman virtuos ins Deutsche übertragen.
Zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Romans in Deutschland wurde Joanna Bator für ihren im vergangenen Jahr erschienen Roman Ciemno, prawie noc, der noch seiner Übersetzung harrt, mit dem polnischen Nike-Literaturpreis, die wichtigste Literaturauszeichnung Polens, geehrt.
Der Griff nach einem Roman entspringt oft der Sehnsucht nach selbstvergessenem Lesen. Wolkenfern stillt diese Sehnsucht.
AVIVA-Tipp: Auch in ihrem zweiten ins Deutsche übersetzten Roman besticht Joanna Bator durch eine fantastische, humorvolle und kluge Erzählweise.
Zur Autorin: Joanna Bator, geboren 1968, studierte Kulturwissenschaften und Philosophie in Woclaw und publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Für ihre Reportage Japonski wachlarz (Der japanische Fächer) erhielt sie 2005 den Beata-Pawlak-Preis. Für ihren Roman Sandberg, der auch in Deutschland ein großer Erfolg wurde, wurde sie mit dem Preis der Gesellschaft der polnischen Buchverlage ausgezeichnet. 2013 erhielt sie den wichtigen polnischen Nike-Literaturpreis. Joanna Bator lebt in Japan und Polen.
Zur Übersetzerin: Esther Kinsky, 1956 geboren, ist literarische Übersetzerin und Autorin von Prosa und Lyrik. Unter anderem übersetzte sie Werke von Olga Tokarczuk, Zygmunt Haupt und Hanna Krall. 2013 erschienen von ihr der Gedichtband Naturschutzgebiete sowie Fremdsprechen – Gedanken zum Übersetzen. Esther Kinsky lebt in Berlin und Südungarn.
Joanna Bator
Wolkenfern
Originaltitel: Chmurdalia im Verlag W.A.B., Warschau
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Suhrkamp Verlag, erschienen Herbst 2013
499 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-518-42405-6
24,95 Euro
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