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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.04.2014


Shani Boianjiu - Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst
Susann S. Reck

Das aufregende Romandebüt der erst 26 Jahre alten Autorin erzählt die Geschichte von drei Freundinnen vor, während und nach ihrem zweijährigen Militärdienst in Israel. Neben dem explosiven...




... Cocktail aus Brutalität und Langeweile beschreibt der Roman vor allem die desorientierende Wirkung ihrer Ängste.

Panzerfaust-Kinder

Noch in der Schule werden Yael, Lea und Avishag auf den Militärdienst vorbereitet. Kriegerische Auseinandersetzungen, in die Israel verwickelt ist, Strategien der Verteidigung, der Einsatz bestimmter Waffen zu einem bestimmten Zweck, die Mittel der Feinde - all das wird im Unterricht thematisiert. "Die Begriffe habe ich alle drauf, da bin ich ziemlich sicher, bis auf Panzerfaust-Kinder vielleicht". Die drei lernen, dass die beiden Kinder, die das schwere Panzerfaustrohr halten, bevor es in Richtung Israel gezündet wird, keine Ahnung haben, dass beim Schuss Feuer aus dem hinteren Teil der Panzerfaust schießt. "Keiner hat mit ihnen geredet, keiner hat ihnen irgendwas gesagt, weder den Kindern, die vorn festhielten, noch den Kindern, die hinten festhielten, aber sehr, sehr interessant ist, dass das vordere Kind sehr oft das brennende Kind hinten ansprang und es umarmte, und dadurch stiegen die Opferzahlen massiv, das eine Kind ist nicht allein verbrannt."

Kollektive Erfahrung

Die Stärke des Romans Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst, liegt in seiner atmosphärischen Dichte, in der immer wieder aufblitzenden Brutalität, die den öden Militärdienst- Alltag der Mädchen durchbricht. Nach und nach werden Yael, Lea und Avishag mit Situationen der Entmenschlichung konfrontiert, denen sie zunächst mit scheinbarer Gleichmut begegnen. Der Roman beschreibt eindrücklich einen Prozess der Verrohung, der auf jede andere Armee der Welt übertragbar ist. Die geschilderten Erlebnisse von drei Soldatinnen betont die kollektive Erfahrung dieser Verrohung.

Die anfänglich sehr authentisch wirkende, frische Sprache verliert sich mit fortschreitender Handlung - leider. Dies ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass Shani Boianjiu ihr Debüt in englischer Sprache verfasst hat, obwohl ihre Muttersprache Hebräisch ist. Auch sind die abrupten Perspektivwechsel teilweise verwirrend und werden durch das Episodenhafte der Erzählweise erschwert. Die beiden letzten Kapitel wirken ohne Bezug zum Rest. Es bleibt für die LeserIn nicht wirklich nachvollziehbar, warum das Buch als Roman und nicht als Kurzgeschichtenband erschienen ist.

Kfar Vradim

Shani Boianjiu wurde 1978 in Israel geboren. Nach dem Militärdienst verzichtete sie auf die einjährige, staatlich finanzierte Auszeit, die es den ehemaligen Militärdienstleistenden ermöglicht, sich von den Strapazen zu erholen und zu reisen. Boianjiu ging unmittelbar im Anschluss nach Harvard (USA), um dort Englische Literatur und Ethnologie zu studieren.
Wie ihre drei Hauptfiguren Yael, Lea und Avishag, verbrachte auch Shani Boianjiu ihre Kindheit in einem Dorf nahe der libanesischen Grenze, Kfar Vradim. Die unmittelbaren Auswirkungen permanenter, kriegerischer Auseinandersetzungen waren für Boianjiu dementsprechend von klein auf gegenwärtig. "Während wir redeten, schlugen Granaten ein, wie sie das dort, wo wir lebten, schon immer getan hatten./.../ Weil wir schon so viele Granaten gehört hatten, konnten wir ziemlich gut vorhersagen, wo sie einschlagen würden" lässt die Autorin Yael ihr Alter Ego im Roman sagen.

Alltäglicher Horror

Trotz dieses Bewusstseins permanenter Bedrohung, so kann es Boianjiu ihren LeserInnen ausgezeichnet vermitteln, ist der Militärdienst unvergleichlich brutaler, und in diesem Sinne voller Überraschungen. Leas Tagträume, die das Leben der täglich den Checkpoint passierenden PalästinenserInnen zum Inhalt haben, wiegen die Tatsache nicht auf, dass einem diensthabenden Kollegen ein Messer in den Hals gerammt wird. Von da an treibt Lea vor allem die von ihr aufgeschnappte Formulierung um, das Messer habe beinahe seinen Hals durchtrennt. Auch Sex ist keine wirkliche Alternative zum Alltag in der Armee. So bringt Yael als Waffenausbilderin einem jungen Soldaten mit viel Geduld das Schießen bei. Irgendwann in dieser Zeit haben sie auch Sex, und der junge Soldat scheut sich nicht, unmittelbar nach dem vollzogenen Akt seine erworbenen Fähigkeiten als Schütze an palästinensischen Kindern auszuprobieren. "´Das sind doch nur Kinder´, schrie ich Boris an und warf ihn zu Boden. ´Wenn man auf einem Stützpunkt Leute ohne Uniform sieht, erschießt man sie´, sagte er. ´Das ist Vorschrift, oder etwa nicht?´"

Unter den im Roman vorherrschenden Themen Einsamkeit, Freundschaft, Sex, Gewalt und Macht spielen die beiden Letzteren eine herausragende Rolle. Allerdings wird nicht wirklich deutlich, dass die Mädchen am Ende ihres Militärdienstes Opfer einer Massenvergewaltigung werden, die sich über Tage hinzieht und deren Täter aus den eigenen Reihen stammen. "Die Jungen kamen und die Jungen nahmen und die Jungen kamen und die Frauen waren, wer sie nicht waren."

Es bleibt unklar, warum die Autorin an dieser Stelle, anders als sonst im Roman, sprachliche Zurückhaltung übt und das Geschehen in der Schwebe lässt. Es wird nicht deutlich, ob sie die aus dem zweiten Libanon-Krieg zurückkehrenden jungen Soldaten schützen möchte, oder ob das Uneindeutige die monströse Größe der Tat betonen soll. Zwar sind direkte Beschreibungen von Schmerz und erfahrenem Leid auch sonst im Roman nicht zu finden. Während diese Haltung aber insgesamt als lakonisches Stilmittel erkennbar bleibt, verwandelt sie sich an dieser Stelle in eine Art Flucht vor der Bewertung.

Shani Boianjius Roman Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst ist seit seinem Erscheinen im Jahr 2012 in mehr als 23 Ländern erschienen. Auf die Frage, warum der Roman in Englischer und nicht in Hebräischer Sprache veröffentlicht wurde, antwortete sie in einem Interview mit der Online-Ausgabe der New York Times: "Writing in English was an accident, but I think it helped me, particularly as a young writer. Writing in English forced me to think carefully about every word I used. The words did not belong to me, so I had to work harder to make them belong in my stories."
Das Interview ist online unter: artsbeat.blogs.nytimes.com

AVIVA-Tipp Shani Boianjius Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst erzählt den Nahost-Konflikt aus einer, für LeserInnen ohne Militärdiensterfahrung, ungewöhnlichen Perspektive. Er beschreibt, wie die Armee in die Persönlichkeit seiner SoldatInnen eingreift, in diesem Falle vor allem in die der Mädchen, zweifelsohne aber auch in die der Jungen. Der Roman ist, trotz seiner erkennbaren Schwächen, ein starkes, fulminantes Debüt und es bleibt zu hoffen, dass Boianjiu in ihren noch folgenden Romanen nichts von ihrer schriftstellerischen Schlagkraft einbüsst.

Zur Autorin: Shani Boianjiu kam 1978 in Jerusalem zur Welt. Den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie jedoch in Kfar Vradim, einem Dorf nahe der libanesischen Grenze. Nach dem Militärdienst studierte Boianjiu in Harvard Englische Literatur und Ethnologie. Shani Boianjiu lebt in Israel und arbeitet an ihrem zweiten Roman.

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst stand unter anderem auf der Longlist des Women´s Prize for Fiction und zählt, laut Wall Street Journal zu den zehn besten Büchern des Jahres 2012.
Als jüngste Autorin überhaupt, erhielt Boianjiu den National Book Foundation´s 5 Under 35 Award. Sie war sowohl für den Sami Rohr Prize for Jewish Literature als auch für den VCU Cabell First Novelist Award nominiert und wurde als one of The Algemeiner´s Jewish 100 ausgewählt.
Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst steht 2014 auf der Shortlist für den Jewish Quaterly Wingate Prize.


Shani Boianjiu
Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst

Originaltitel: The People of Forever Are Not Afraid
Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch und Ulrich Blumenbach
ISBN: 978-3-462-04558-1
Kiepenheuer und Witsch Verlag, erschienen am 10.09.2013
336 Seiten, gebunden
19,99 Euro


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Beitrag vom 04.04.2014

Susann S. Reck