Alba Arikha - Wörterbuch einer verlorenen Welt - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 26.07.2014


Alba Arikha - Wörterbuch einer verlorenen Welt
Susann S. Reck

Mit einer wunderbaren Mischung aus Erinnerungen an Pubertät und der besonderen Situation als Tochter eines bekannten Malers zeichnet die Schriftstellerin und Musikerin ein atmosphärisch ...




.. dichtes Bild ihrer Jugend.

Daheim unter KünstlerInnen

Der autobiographische Roman Wörterbuch einer verlorenen Welt gibt vor allem Einblicke in das Verhältnis der Schriftstellerin zu ihrem Vater, dem berühmten, 2010 verstorbenen Maler Avigdor Arikha, ihrer Mutter, der Dichterin Anne Atik und ihrer jüngeren Schwester Noga.
"Meine Mutter ist gut und liebenswürdig. Geduldig und freundlich. Und ich hasse sie dafür. Ich lüge. Ich schreie. Ich brülle meine Eltern an. Lehne ihre Reinheit und ihr Wissen ab."

Es gelingt der heute über Vierzigjährigen Alba Arikha von einem Zuhause zu erzählen, in dem international bekannte Intellektuelle und KünstlerInnen ein- und ausgehen, ohne dass diesem Umstand besondere Aufmerksamkeit zukäme. So tritt Schriftsteller Samuel Beckett als freundlicher, über dem Boden schwebender Patenonkel und Förderer der jungen Alba auf, der Maler Kitaj, der sich 2007 das Leben nahm, als ein von Glamour und Arroganz gezeichneter Schnösel. Charmant und von ironischer Leichtigkeit ist die Perspektive der heranwachsenden Alba, die nicht verstehen kann, dass sie in der Schule um ihre Eltern und deren Freundeskreis beneidet wird.

"Die Wochenenden verbringen die Barzins im Loire-Tal./.../ Und jeden Sommer geht es an die Côte d´Azur oder entfernte Orte, von denen sie mit Geschichten über ihre Abenteuer zurückkehren. Im Vergleich dazu sind wir öde. Wir reisen selten und unsere Abenteuer sind rein mental."

Erwachsenwerden

Albas pubertäre Weltsicht, die besonders aus zeitlichem Abstand Unterhaltungswert hat, bietet, trotz des elitären Milieus, genügend Fläche zur Identifikation. "Mir graut vor meinem eigenen Unbewussten", lässt sie etwa verlauten. "Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als die Offenbarung meiner Geheimnisse."
Auch die Art der Auseinandersetzungen mit den Eltern dürften vielen LeserInnen vertraut sein: Mein Vater hält sich die Ohren zu. /.../ Aus der Jukebox tönt jetzt you ain´t nothing but a hound dog. - Das macht mich wahnsinnig, murmelt er. - Wie kann meine eigene Tochter solch schrecklichen Lärm hören?

Verlorene Welt

Dem Vater, dessen Traumata eines Holocaustüberlebenden wie ein Schatten auf dem Familienleben liegen, fällt ein besonderes Gewicht zu. Arikha gelingt es hier, auf unaufdringliche, filigrane Art und Weise, ihre Konflikte als Jugendliche mit dem Versuch zu verschränken, Näheres über seine Vergangenheit zu erfahren. Sie behält auch in bewegenden Situationen einen unverklärten Blick auf seinen sperrigen Charakter, ohne dass dieser zu einer Abrechnung verkäme. Obwohl ihre Jugend von familiären Kämpfen und pubertärem Geschrei begleitet wird, beschreibt sie mit ihrer sparsamen Erzählweise, die jedoch nichts verschweigt, ihr Zuhause als eine Welt von ungewöhnlicher emotionaler Intensität und Tiefe. Dass es sich in Wörterbuch einer verlorenen Welt nicht "nur" um eine Welt handelt, die von den Auswirkungen der Shoah geprägt wird, wird an einer Stelle offenkundig, in der sie ihre Eltern dem Maler Kitaj und seiner Geliebten gegenüberstellt.

"Wir werden nicht Teil ihres Freundeskreises, einer glamourösen Gruppe von Malern und Schriftstellern./.../Ich spüre es, insbesonders, als meine Eltern von ihrer Hochzeit erfahren, auf die sie nicht eingeladen sind. Meine Eltern sind zu authentisch um glamourös zu sein. Sie erklären sich, wenn sie schweigen, und reagieren wenn sie Distanz wahren sollten. Viel Aufrichtigkeit. Wenig Geheimnis".

AVIVA-Tipp: In Alba Arikhas "Wörterbuch einer verlorenen Welt" fließen alle Zeitebenen humorvoll und leichtfüßig ineinander. Jeder Mensch ist und lebt auch seine Vergangenheit, die mithin mehr Gewicht hat, als die Gegenwart oder der vermeintlich notwendige Blick in die Zukunft.

Zur Autorin: Alba Arikha, in Paris geboren und aufgewachsen, hat in Frankreich und den USA Komparatistik studiert. Bevor sie zu schreiben begann, war sie jahrelang als Pianistin tätig. Wörterbuch einer verlorenen Welt ist ihr vierter Roman. Er wurde 2012 für den Spears Award 2012 nominiert und gehörte im gleichen Jahr zu den besten Büchern des New Yorker Magazines.
Außer Wörterbuch einer verlorenen Welt erschienen unter dem Namen Alba Branca in englischer Sprache Muse (1998), die Sammlung von Kurzgeschichten Walking on Ice (2000) und Soon (2013).
2007 hat Arikha ihr erstes Musikalbum Dans les rues de Paris herausgegeben. Zurzeit arbeitet die Schriftstellerin und Musikerin an einem neuen Roman.
Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London.

Alba Arikha
Wörterbuch einer verlorenen Welt

Original: Major/Minor
Aus dem Englischen von Friederike Meltendorf
Berlin Verlag, erschienen am 12.05.2014
256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-8270-1102-2
Euro 19,99

Mehr Infos unter

Offizielle Webseite von Alba Arikha
www.albaarikha.com

CD "Dans les rues de Paris"
www.albaarikha.com/music

Videos zu Alba Arikha
www.albaarikha.com/videos

Informationen zu Avigdor Arikha
www.marlboroughfineart.com

Informationen zu Anne Atik
www.enitharmon.co

Informationen zu Kitaj
www.aviva-berlin.de



Literatur

Beitrag vom 26.07.2014

Susann S. Reck