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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 17.10.2014


Peggy Wolf - Acker auf den Schuhen
Ahima Beerlage

Susann ist tot. Die lesbische Ärztin hat sich fern ihrer Heimat das Leben genommen. Ihre Familie holt sie zurück in ihr katholisches Dorf, um sie dort unter Schweigen und Tradition zu begraben.




Die größte Sorge der Familie: Kann sie, die "in Schande gelebt und in Sünde gestorben" ist, in geweihter Erde begraben werden, um vor der Gemeinde nicht das Gesicht zu verlieren?

Hilflos steht die Mutter Waltraud am Sarg ihrer Tochter, die von Norwegen in ihr Dorf zurückgebracht worden ist. Ihre älteste Tochter Susann hatte sich das Leben genommen. Wie soll sie damit umgehen? Der Pfarrer war das größte Problem. Ihm musste gesagt werden, dass sich Susann in Norwegen am Torbalken ihrer Hütte erhängt hatte. Nur gut, dass ihre anderen beiden Töchter bald eintreffen würden.

Zuerst reist Waltrauds jüngste Tochter Anne ein. Anne lebt mit Robert in "wilder Ehe" und hat mit ihm zwei Kinder. Die Kinder würden immerhin ihren Familiennahmen Schütter weitertragen, tröst sich die Mutter. Susann, ihre Älteste, dagegen war beim Thema Familie fernab von Gut und Böse durchs Leben gesegelt . Waltraud hatte sich immer darum bemüht, keines ihrer Kinder zu bevorzugen. Aber zugeben musste sie: Betty war ihr liebstes Kind gewesen. Für Betty war es kein Ertragen, die Gebote des Elternhauses zu achten, ja, sie in die eigene Familie zu übernehmen. Insgeheim schämte sich Waltraud vor der Dorfgemeinschaft, dass zwei ihrer Töchter so aus der Art geschlagen waren.

Dieses Dorf war schließlich ihre Welt. Hier war sie aufgewachsen, hier hat sie die einzige Kneipe des Dorfs von ihren Eltern übernommen und weitergeführt, bis ihr Mann Hermann seinen Schlaganfall hatte und auf ihre Pflege angewiesen war. Im Dorf, da waren die Frauen wie sie. Dort war sie wer. Dort war sie glücklich bis zu dem Tag, als Waltraud erkennen musste, Susann war krank.

Anne, Susanns Schwester, ist ratlos. Ihr war unklar, wo ihre Schwester hätte begraben werden können. Über den Tod hatten die Schwestern nie gesprochen, wie über so vieles nicht. So sollte Susann neben ihrer geliebten Oma beerdigt werden, deren Mann nach dem Krieg vermisst blieb. Susann und ihre Oma waren eng miteinander verbunden im vergeblichen Warten auf das Glück und die Oma war gestorben, bevor "die Sache" passiert war.

Anne und Waltraud stellen sich dem Pfarrer. Sie fürchten, er könnte Susann wie eine Selbstmörderin auf dem Städtischen Friedhof verscharren. Susann hatte Depressionen, baute er ihnen eine Brücke. Sie war ja auch sonst krank und damit nicht Frau ihrer Sinne. Also sei es ja auch kein klassischer Selbstmord. Mutter und Tochter sind erleichtert, doch das Schweigen zwischen ihnen hält sich. Vorsichtig frag Anne nach, wie es ihrer Mutter gehe. Doch diese will nicht reden. Warum konnte diese Frau nicht einmal sagen, wie es um sie stand? Verfluchte Kriegsgeneration! Aber Anne selbst findet auch kaum Worte für das, was ihrer Schwester geschehen war.

In ihrem Elternhaus, das stets vom Kruzifix überschattet war, hatte Anne mitbekommen, wie Susann mit siebzehn immer blasser wurde. Der Schlüssel dazu hieß Helen. Dieses Mädchen war neu an die Schule gekommen und irgendetwas an ihr schien Susann aus der Bahn zu werfen. Susann wurde sogar der Schule verwiesen und fürchtete sich, in ein Heim für ungezogene Mädchen zu kommen. Anne hatte mit ihren zwölf Jahren nichts dagegen tun können.Susann lag nun irgendwo in einem weißen Sarg und Anne kann nicht schlafen.

Am nächsten Morgen treffen die perfekte Tochter Betty mit ihrem perfekten Mann Christoph ein. Ihre zwei perfekten Kinder hatten sie bei der Kinderfrau gelassen, um sie nicht mit der Beerdigung zu belasten. Alle drei waren sie Wildfänge gewesen und waren sich nahe gewesen als Kinder. Obwohl Betty Sonderkonditionen genoss, mochten sich die Schwestern. Als die "Sache" mit Susann passierte, hatte Betty zu den Eltern gehalten und Anne zu Susann. Das hatte die Schwestern auseinandergetrieben. Die anschließenden Erbstreitigkeiten vertieften nur den Graben.

Alle Familienmitglieder unter einem Dach hüllen sich in Schweigen. Jede und jeder kämpft allein mit den Ereignissen der Vergangenheit, die in letzter Konsequenz Susann keine Wahl zu lassen schienen. Susann hatte sich in der Schule in ein Mädchen verliebt. Eine schwere Sünde für ihre Eltern. Sie konnte nur krank sein. Auf Anraten des Pfarrers war Susann in die Psychiatrie. eingeliefert worden. Sie hatte sich nie wieder davon erholt.

Peggy Wolfs Roman ist alles andere als leichte Kost. Doch in ihrer eindringlichen und bildreichen Sprache fängt sie die LeserInnen ein und lässt sie bis zur letzten Seite nicht mehr los. Ihre Verdienst dabei ist, ohne platte Schuldzuweisungen die betroffene Familie und die FreundInnen zu schildern. Die fast nüchterne Beschreibung macht die zerstörerische Kraft dieser gesellschaftlichen und religiösen Zwänge nur noch eindringlicher.

AVIVA-Tipp: Peggy Wolf liefert mit ihrem einfühlsamen Roman über den seelischen Kampf einer katholischen Familie auf dem Dorf, die mit dem Selbstmord ihrer Tochter und Schwester umgehen muss, einen wichtigen Beitrag zu einer brandheißen Diskussion. Papst Franziskus hat in Rom die Bischöfe zu einer Synode über die Lehre zu Familie und Sexualität zusammengerufen. Dabei soll auch das Verhältnis gegenüber Homosexuellen verbessert werden. "Acker auf den Schuhen" holt die ins Licht, die an den menschenunwürdigen Dogmen schon zerbrochen sind. Ein wichtiges und fesselnd geschriebenes Buch.


Zur Autorin: Peggy Wolf wurde 1971 in Wernigerode (Harz) geboren. In Leipzig und London studierte sie Bibliothekswesen. Seit 2000 arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Bisher von ihr erschienen: Sternenlieder und Grabgesänge (2006), eine kommentierte Bibliographie über Vita Sackville-West, Fahnenflucht (2007) ), ein Band mit Kurzgeschichten, die vom Alltag der DDR erzählen. Acker auf den Schuhen ist ihr erster Roman.(Verlagsinformationen)

Weitere Infos unter: autorinpeggywolf.net

Peggy Wolf
Acker auf den Schuhen

Querverlag, erschienen Herbst 2014
Broschiert, 187 Seiten
ISBN: 978-3-89656-223-4
14.90 Euro
auch als eBook auf Kindle und iTunes
www.querverlag.de






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Beitrag vom 17.10.2014

Ahima Beerlage