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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 23.06.2015


Edith Pearlman - Honeydew
Britta Meyer

Haben Sie je Menschen in Ihrer Nachbarschaft, in der U-Bahn und im Wartezimmer Ihrer Ärztin angesehen und sich gefragt, welche kleinen und großen Einsamkeiten und Obsessionen,..




... welches gebrochene und geheilte Herz hinter diesem Gesicht stecken?

Edith Pearlman webt in jeder der zwanzig Kurzgeschichten von "Honeydew" an einem kleinen Stück dieses mosaikartigen Teppichs.

Viele ihrer Charaktere sind stille BeobachterInnen ihrer Umgebung und ihrer Mitmenschen. Sie sind die Fußpflegerin mit der ruhigen Ausstrahlung, deren KundInnen ihr in ihrem Salon "Zartfuß" fast ohne es selbst zu merken die persönlichsten Geheimnisse erzählen. Der junge Geschichtsdozent, der sie dabei aus seinem Fenster heraus nach Hitchcock-Art heimlich betrachtet.

Immer wieder schwingt der Fokus der Geschichte plötzlich von den Betrachteten zu den BeobachterInnen selbst. Die ProtagonistInnen haben meist bereits ihre eigene längere Geschichte hinter sich, die wenigsten sind noch jung. Sie sind eingefahren in ihren Routinen, tragen viel emotionales Gepäck mit sich herum und lassen sich nur zögernd auf die Veränderungen ein, die Pearlman ihnen in den Weg schreibt. In "Was die Axt vergisst, daran erinnert sich der Baum" ist Gabrielle gerade froh, den größten Teil ihres Lebens hinter sich zu haben. Als ihr am unwahrscheinlichsten Ort eine zerbrechliche Liebe begegnet, zögert sie beinahe zu lange. Aaber auch Erinnerungen, die viel zu schmerzhaft sind, um je zu verblassen, können Raum für frisches Glück übriglassen.

Ob Großstadt, Landschulheim, Vorort oder mitten im Wald, die Schauplätze der Stories fühlen sich an wie verwunschene Orte, und die Figuren darin wie Gestalten aus einem modernen Märchen mit ungewissem Ausgang. Sie schauen mit abgeklärter Distanz auf ihre eigenen Handlungen und manchmal übernehmen sie selbst die Aufgabe, ihre Fabel zu erzählen, wie der einsame Lyle, der mehr Farbnuancen wahrnehmen kann, als all seine Mitmenschen:

"Es war einmal ein junger Mann, der nur dann glücklich war, wenn er in Sachen herumschnüffeln konnte, von denen andere Menschen keine Ahnung hatten. Besonders Sachen, die nachts passierten. Er wollte, dass sich ihm Geheimnisse offenbarten. Er ging von einem Zauberer zum nächsten und bat sie vergeblich, ihm die Augen zu öffnen, aber er fand keinen, der ihm helfen wollte. Schließlich kam er zu Anansi. Nachdem die Spinne ihn angehört hatte, sagte sie warnend: `Mein Sohn, die meisten Entdeckungen bringen nicht Glück, sondern Unglück. Vieles bleibt den Augen der Menschen aus gutem Grund verborgen. Zu viel Wissen tötet die Freude.´"

"Honeydews" Geschichten leben nicht von dramatischen Gesten. Ihre Menschen sind sehr erwachsen in Alltagszwänge verwickelt und versuchen, das Beste aus dem zu machen, was sich ihnen bietet. Oft entscheiden sie sich bewusst gegen eine Leidenschaft und wählen stattdessen lauwarme Stabilität. Wenn Ingrid in "Stein" nicht bei ihrem neuen Liebhaber bleibt, oder die vier Teenager aus "Drei Richtige" sich in den fünfziger Jahren die Namen ihrer zukünftigen Ehemänner aus einem Hut ziehen, wollen sie lieber langfristig zufrieden als kurz sehr glücklich sein.

AVIVA-Tipp: Selten münden Pearlmans Geschichten in einem Ende, das sich befriedigend anfühlt, oftmals bleibt ein halbfertiges Gefühl zurück. Etwas fehlt hier, etwas muss noch kommen. Vielleicht auch, weil die Story der Charaktere noch nicht zuende erzählt ist. Die Erzählung stellt nur einen Moment aus deren Leben dar - erinnern werden sie sich daran, ob nun bedauernd oder bestätigt, wohl aber immer.

Zur Autorin: Edith Pearlman, geboren 1936 in Providence, Rhode Island und studierte am Radcliffe College in Cambridge, Massachusetts. Sie arbeitete als Software-Programmiererin und in Suppenküchen, bevor sie 1996 ihre erste Kurzgeschichtensammlung, "Vaquita", veröffentlichte, die den "Drue Heinz Prize for Literature" gewann. Jeder ihrer folgenden Bände, "Love Among The Greats" (2002), "How to Fall" (2005) und "Binocular Vision" (2011) und die einzelnen Stories darin wurden mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem "Spokane Annual Fiction Prize, dem "Mary McCarthy Prize in Short Fiction", dem "Edward Lewis Wallant Award" und dem "National Book Critics Circle Award". Die jüdisch-amerikanische Autorin hat mehr als 250 Geschichten publiziert, ihre Arbeiten erschienen in "Best American Short Stories", der "O. Henry Prize Collection" und der "Pushcart Prize Collection". Edith Pearlman lebt in Massachusetts.
Weitere Informationen finden Sie auf Edith Pearlmans offizieller Seite:

www.edithpearlman.com


Edith Pearlman
Honeydew

Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel
Ullstein Verlag, erschienen April 2015
Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag
320 Seiten
ISBN-13 9783550080999
Preis: 20,00,- Euro
www.ullsteinbuchverlage.de


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Beitrag vom 23.06.2015

Britta Meyer