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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 06.05.2016


Jeanette Winterson - Der weite Raum der Zeit
Laura Seibert

In dem modernen Cover von Shakespeares "Wintermärchen" zeichnet die britische Autorin mit streckenweise zu grellen Farben ein Familiendrama unter dem Stern einer unglücklichen Dreiecksbeziehung, und bedient sich dabei pathetisch-philosophischer Reflexionen.




Wer Shakespeares "Wintermärchen" nicht gelesen hat, braucht nicht lange zu suchen, denn sozusagen als Service-Teil geht dem Roman eine kleine Zusammenfassung des Klassikers voraus. Doch dann weiß die Leserin ja bereits, was passiert. Die Lektüre der ersten Seiten ist dadurch ein wenig zäh, denn im Hinterkopf lauert die skeptische Frage, ob die Geschichte schon kennend, noch Spannung entstehen kann. Spannend wird es spätestens dann, wenn die komplexe Besetzung der ProtagonistInnen beginnt, Verwirrung zu stiften – ursprünglich handelt es sich um ein Theaterstück – und der Plot beginnt.

Bonjour Klischee! Hart trifft zart

Ein herumfahrender Hippie, Xeno, und ein unbeirrbarer, karrieregeiler Banker, Leo, bilden anfänglich das Protagonisten-Duo, der eine zart und sensibel, der andere gefühlsgehemmt und eher grob im Benehmen: Hier trifft mensch beim Lesen eigentlich nur auf Altbekanntes, die Antagonisten Gut und Böse, wenn auch im modernen Gewand. So einfach gestrickt bleibt es glücklicherweise nicht, seit ihrer Jugend verbindet sie eine Lovestory, die aber der verklemmte Banker nicht leben kann (Stereotyp?!). Sie können nicht miteinander und auch nicht ohne. Sie entfernen sich voneinander und finden sich wieder, wenn auch nicht als Paar, führen Beziehungen mit Frauen und verdienen viel Geld. In ihre Symbiose mischt sich eine Dritte, die Sängerin MiMi. Es könnte ein Happy End geben. Das wäre im Sinne des Buches gar nicht so unglaubwürdig, schließlich erfährt mensch bei der Lektüre von der feierlichen These, dass Liebe noch vor dem Wunsch nach Unsterblichkeit die Triebfeder allen Handelns sein soll. Doch die Dreieckskonstellation versetzt Leo in eine wahnsinnsgleiche Eifersucht. Er verwandelt sich in ein gewalttätiges Arschloch und verstößt das neugeborene Kind (Perdita) seiner Frau MiMi, denn er hält Xeno für den Vater. Perditas Leben als Findelkind beginnt mit dem endgültigen Bruch zwischen Leo, Xeno und MiMi.

Zu viel belanglose Tiefgründigkeit

Es ziehen sich einige bemüht-philosophische Passagen durch den Text, meist über Zeit und Raum (das legt bereits der Titel nahe, wenn auch der englische Originaltitel "The Gap of Time" eher auf die Zeit als auf den Raum verweist), über die Bedingungen, die diese an die Menschen stellen, und, häufig leider etwas pathetisch formuliert, wie sie Menschen voneinander trennen. Es ist nichts Neues, festzustellen, die Zeit ließe sich nicht zurückdrehen. Der zeitliche und emotionale Abstand zwischen der jüngeren und der älteren Generation ist das große Thema dieses Buches. Die Erzählung der eigenen Geschichte, die die Lücke überbrücken soll, gelingt sprachlich nicht immer. Die Dialoge zwischen den Generationen bleiben hölzern:

"Das ist lang her. So geht es einem, wenn man älter wird: Alles ist so lang her."(Leo)
"Aber nicht die Gegenwart", sagte Perdita. "Die ist jetzt."
"Sie sind jung. Sie haben eine Gegenwart, weil sie keine Vergangenheit haben."
(Leo)

Es ist anzunehmen, dass die schwere Sprache und der Rückgriff auf Stereotype aus dem Versuch erwächst, ein Märchen zu schreiben, wie es der Originaltitel von Shakespeare evoziert. Durchbrochen wird das Pathos von witzigen Beobachtungen, lesenswerten Anekdoten und außergewöhnlichen Metaphern, nur schleichen sich Passagen wie diese viel zu selten ein:

Eigentlich hatte es Pauline nicht so mit dem Gehen, Beine hatte es von Anfang an gegeben, dann war das Fahrrad erfunden worden, und jetzt gab es doch Autos.

Oder

Offenbar klang ein Wort nur dann intelligent, wenn es doppelt verwendet wurde, dachte er und begann in Gedanken eine kurze "Geschichte des Objekts in der Geschichte" zu entwerfen.

Stilistisch setzt Winterson eine zeitliche Ellipse ein, die das Heranwachsen von Perdita und Zel, Xenos Sohn, auslässt. Während für die leiblichen Eltern diese Phase emotional leer bleibt, führt Perditas Adoptivfamilie mit ihrer neuen Tochter ein erfülltes Leben. Das Thema Adoption ist bereits Gegenstand von Wintersons Roman "Orangen sind nicht die einzige Frucht", das ebenfalls autobiographisch geprägt ist. Shakespeares "Wintermärchen", das auch im Original die Geschichte des Findelkinds Perdita erzählt, enthält für die Schriftstellerin eine besondere Bedeutung: "Wir alle haben Texte, die wir als Glücksbringer in uns tragen und die uns tragen. Seit Jahren kreist meine Arbeit immer wieder um dieses Stück", schreibt sie.

Die nächste Generation

Unter der grandiosen Unfähigkeit der Eltern, das Leben sinnvoll zu gestalten und Beziehungen aufzubauen, leiden schließlich die Kinder, die sich nur durch einen Zufall begegnen und kennenlernen. Sie beginnen die Vergangenheit ihrer Eltern aufzurollen, denn es scheint, sie seien Geschwister. Das jedoch passt Perdita und Zel überhaupt nicht, ihre – als überaus unschuldig inszenierte – jugendliche Verliebtheit wäre dann skandalöser als die Dreiecksaffäre ihrer Eltern: Eine inzestuöse Beziehung. Es ist berührend zu lesen, wie sie sich fragen, ob sie das gleiche Schicksal ereilt wie diese:

"Glaubst du, dass wir auch einmal so enden wie Leo und Xeno?" (Perdita)
"Als totale Arschlöcher?" (Zel)
"Als traurige Menschen." (Perdita)

Intertextualität mündet in Parallelwelt

Außer dem eindeutigen Bezug auf das Original von Shakespeare finden auch einige andere literarische Geschichten Einzug in den Roman. So bekommt Ödipus, der schließlich "Eddy" genannt wird, einen Auftritt. Belehrend wird sein tragisches Schicksal erläutert, als Negativbeispiel und Fingerweis auf die Möglichkeit eines anderen Ausgangs, den der vorliegende Roman durch ein Happy End beweisen will. Für das Gelingen der Versöhnung zwischen den auseinanderstrebenden ProtagonistInnen sorgt Pauline, die jüdische Assistentin Leos, die in seinen Geschäften das ethische Gewissen verkörpert. Bemüht um ein familiäres Miteinander und Zusammenhalt, verlassen sie auch in den heikelsten Momenten weder Schlagfertigkeit noch Humor.

Wie ein Refrain zieht sich die Geschichte des "Fallenden Engels" durch das Buch, angelehnt an einen Traum des französischen Schriftstellers Gérard de Nerval. Dadurch entsteht allerdings kein angenehmes Gefühl der Wiederkehr, sondern der langweilige Beigeschmack zu häufig wiedergekäuter Zeilen.

Xeno entwickelt basierend auf diesem Traum ein Computerspiel, das sowohl im Roman als auch in der Wirklichkeit der ProtagonistInnen mehr und mehr Raum einnimmt. Es gaukelt seinen SpielerInnen vor, meist Leo und Xeno, sie könnten ihre Vergangenheit ungeschehen machen. Das zerrüttete Freundespaar flüchtet sich in die Parallelwelt, im sicheren Raum des WWW ertragen sie die Begegnung des anderen. Engel verkörpern die Avatare im Spiel, das hohe Maß an Kitsch wird durch Paris als virtuellen Schauplatz noch verstärkt. Xenos Anspruch bei der Entwicklung des Spiels ist, es solle auch Frauen gefallen, sprich Niveau haben. Die viel zitierte Aufgabe des Spiels "Federn sammeln" lässt daran zweifeln, dass es ihm gelungen ist, ein anspruchsvolles und ernstzunehmendes Game zu kreieren. Es nennt sich wie der Roman "Der weite Raum der Zeit" und der Entwickler erklärt es in folgenden Worten:
"Die Stadt wurde von den Dunklen Engeln okkupiert. Du kannst ins Lager der Engel oder in den Widerstand gehen. Die Engel haben zwei, vier oder sechs Flügel, und manche Flügel haben Augen. Außerdem haben Engel zwei Schwänze."

Bereits in dem Roman "Die steinernen Götter" entwickelte Jeanette Winterson düstere, an klassische Dystopien erinnernde Parallelwelten, deren Stellenwert im Buch sich nicht eindeutig zuordnen lässt. Ebenso in "Der weite Raum der Zeit". Warum die Engel in dem Universum des Computerspiels zwei Schwänze haben, bleibt völlig unklar und es scheint nur die starre Männlichkeit, die die Autorin Xeno und Leo auf den Leib schreibt, zu unterstreichen.

Im Grunde möchte Jeanette Winterson in ihrem Roman zeigen, dass Menschen nicht dazu verdammt sind, die gleichen Dramen zu wiederholen, und lässt ihre ProtagonistInnen sich schließlich miteinander versöhnen. Fern der Fiktion, reiht sie selbst sich aber in das wiederkehrende Drama ein, Antisemitismus zu relativieren. Auf ihrem Twitter-Account ist am 28.04.2016 zu Lesen: "All this sudden shit about Labour Party ´anti-semitic´. Tories say ´Left has a problem´. London Mayor elections imminent. Any coincidence?" Sie scheint die Antisemitismus-Vorwürfe lediglich als machtpolitisches Kalkül einzuordnen, das die Wahlen in London am 05.05.2016 beeinflussen sollte. Dass es sich dabei nicht um bloße Vorwürfe handelt, zeigt ein Beitrag der Jüdischen Allgemeinen vom 02.05.2016: "Unterdessen nannte Israels Botschafter in Großbritannien, Mark Regev, die zunehmende antisemitische Rhetorik in der Labour-Partei `sehr besorgniserregend´."

AVIVA-Fazit: Basierend auf einer spannenden Story erzählt Winterson eine sehr moderne Version des "Wintermärchens" von Shakespeare. Ihr Roman bleibt allerdings zu sehr dem Kitsch verhaftet. Auch die angestrebte Tiefgründigkeit wirkt häufig trivial, das Pathos verhilft nicht zu Glaubwürdigkeit. Als Zeitvertreib lässt "Der weite Raum der Zeit" sich lesen, aber als wirklich gutes Buch ist es nicht zu empfehlen.

Zur Autorin: Jeanette Winterson, geboren 1959 in Manchester, studierte Anglistik in Oxford und veröffentlichte mit 25 Jahren ihren ersten, autobiographisch geprägten Roman "Orangen sind nicht die einzige Frucht". Bisher sind von ihr auf Englisch insgesamt einundzwanzig Bücher – sowohl Romane als auch Essaysammlungen und Ratgeber – erschienen, darunter auf Deutsch "Verlangen", "Auf den Leib geschrieben", "Die steinernen Götter" und "Warum glücklich statt einfach nur normal?". Winterson lebt seit 1994 im ländlichen Cotswolds, über sich schreibt sie: "I am a practical person. I like getting my hands dirty…If I am not reading, writing or sleeping I am usually outdoors whatever the weather." 2015 heiratete sie die britisch-jüdische Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Susie Orbach.
Weitere Infos unter: www.jeanettewinterson.com
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Zur Übersetzerin: Sabine Schwenk studierte Romanistik und Philosophie in Frankfurt a. M. Sie übersetzte seit 1994 aus dem Französischen und Englischen bereits ca. 60 Bücher, darunter literarische und wissenschaftliche Werke. Sie arbeitet für den Knaus Verlag, den Aufbau Verlag, für den Berlin Verlag, für Ullstein Buchverlage und viele mehr.
Mehr Informationen zur Ãœbersetzerin unter: www.sabine-schwenk.de

Jeanette Winterson
Der weite Raum der Zeit

Originaltitel: The Gap of Time
Aus dem Englischen von Sabine Schwenk
Knaus Verlag, erschienen am 11.04.2016
Gebunden, 288 Seiten
ISBN 978-3-8135-0673-0
19,99 Euro
www.randomhouse.de


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Die britische Autorin hat ihre eigene Biographie als Bildungsroman geschrieben und offenbart sich darin als Missionarin der heilenden Wirkung von Liebe, Literatur und Vergebung. Ihre Erzählung deckt das Komische im Grausamen auf.

Jeanette Winterson - Die steinernen Götter (2011)
In drei Welten existieren, gleichgültig gegenüber Raum, Zeit, Geschlechtszugehörigkeit oder Inkarnationen, Billie und Spike. Ob Spike ein Roboter oder ein Mensch und Billie eine Frau oder ein Mann ist, erscheint genau so nebensächlich, wie die unterschiedlichen Szenarien. Wichtig ist nur, dass es sie gibt und dass sie sich begegnen.




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Beitrag vom 06.05.2016

AVIVA-Redaktion