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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 29.05.2016


Jocelyne Saucier - Ein Leben mehr
Bärbel Gerdes

In ihrem großartigen Roman beschreibt die frankophone Autorin Kanadas einsame Weiten als Metapher von Freiheit, Einsamkeit, selbstbestimmtem Leben – und Sterben. Auch im Mai 2016 wüteten wieder riesige Brände in den Wäldern Kanadas.




Finden diese in der Wildnis statt, wird wenig über sie berichtet – als gäbe es keine Tiere dort, keine Pflanzen, die litten und stürben. Erst wenn sich das Feuer den Städten und Dörfern nähert, wenn die Menschen gefährdet, wenn Häuser und Hab und Gut bedroht sind, finden wir Berichte und Notizen dazu in den Zeitungen und Nachrichtenmagazinen.

Die kanadische französischsprachige Journalistin und Autorin Jocelyne Saucier macht sich, in Gestalt einer Fotografin, auf den Weg, nach einem solcher schrecklichen und apokalyptischen Brände zu forschen: den Großen Bränden von Matheson und Timmins, die 1916 in der Provinz Ontario ausbrachen. Schreckliche Tragödien fanden damals statt. Umherirrende Menschen suchten nach einem Ausweg, Kinder verharrten tagelang im kühlen Wasser eines Sees, Mütter vergruben sich in den Furchen ihres Kartoffelackers, schützend über ihren Kinder liegend.

Boychuck ist einer dieser Jugendlichen, der damals tagelang suchend und erblindet durch die Wälder streifte, um seine Familie zu finden. Nun ist er einer der letzten Überlebenden, und die "Waldfotografin", die keine Lust mehr verspürt, sich über Blüten und Blätter zu beugen oder über Stunden hinweg eine Spinne zu beobachten, macht sich auf seine Spuren. "Boychuck hatte seine ganze Familie in dem Großen Brand von Matheson im Jahr 1916 verloren und diese Tragödie trug er sein Leben lang mit sich herum."

Statt auf Boychuck trifft die selbstbewusste Frau auf eine Männergemeinschaft im Wald. Die beiden Alten haben aus unterschiedlichen Motiven ein einfaches Leben in Freiheit gewählt. Miteinander haben sie einen Todespakt geschlossen, der besagt, dass jeder von ihnen selbstbestimmt leben und sterben darf, und dass sie einander dabei helfen werden, "wenn einer von ihnen so schwer erkrankte, dass er nicht mehr laufen konnte, wenn er eine Last für sich und die anderen wurde." Der Dritte im Bunde war Boychuck, doch der ist tot. Sie leben in Hütten, die weit genug auseinanderliegen, "dass jeder das Gefühl haben konnte, ganz allein auf der Welt zu sein", doch dicht genug, um nicht einsam zu sein.

Jocelyn Saucier begann erst spät Romane zu schreiben. Die studierte Politologin, die als Journalistin arbeitete und an so unterschiedlichen Orten wie Togo, Honduras und Peru lebte, veröffentlichte 1996 ihren ersten Roman. Drei weitere folgten. Der vorliegende erschien 2011 und ist der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Il pleuvait des oiseaux, "Es regnete Vögel", heißt er im Original und spielt damit auf die entsetzlichen AugenzeugInnenberichte an, die vom Großen Brand berichten. In Kanada gewann er zahlreiche Literaturpreise und auch schon die früheren Romane wurden mit Lob und Preisen überhäuft.

Jocelyne Saucier erzählt in einem sehr poetischen, wunderbar leichten Stil. Großartig beschreibt sie die grandiose Wildnis, die riesigen Wälder, die Seen, das Leben dort, das geprägt ist vom Wetter, von der Jahreszeit, vom Blick auf den Stapel mit Brennholz. Die 1948 Geborene kennt sich aus in diesem Gelände: sie selbst lebt heute weit ab in einem winzigen Ort in einem Wald in der Provinz Quebec.

Menschlichkeit, Liebe und die Heilung durch Kunst sind weitere bestimmende Themen dieses Romans. Denn die Gemeinschaft der Männer wird jäh aufgerüttelt durch die Entdeckung, dass ihr Freund Boychuck seine furchtbaren Kindheitserfahrungen malend verarbeitete, noch stärker jedoch durch die Ankunft Marie-Desneiges, einer alten Dame, die fast ihr ganzes Leben in der Psychiatrie verbrachte. Alte Konstellationen und Ziele werden infrage gestellt, ein ganz neues Leben beginnt im hohen Alter. Beständig jedoch bleibt die Anwesenheit des Todes, der immer in seinem Versteck hockt und der in allen Geschichten lauert.
Und sonst? "Die Geschichte sagt nicht, wo das Dorf liegt oder wie es heißt. Schweigen ist Gold, vor allem, wenn es um Glück geht, denn das Glück ist zerbrechlich. Zum Glücklichsein braucht es nicht viel, man muss es nur wollen."

AVIVA-Tipp: Das Leben endet nicht so, wie wir es uns denken, es hat viele überraschende Wendungen für uns – selbst in den einsamen Weiten Kanadas.

Zur Autorin: Jocelyne Saucier 1948 in Clair, Provinz New Brunswick geboren, studierte Politologie an der Universität Laval. Lange arbeitete sie als Journalistin, bevor sie literarisch zu schreiben begann. Ihr erster Roman La Vie comme une image erschien 1996 und landete auf der Shortlist des Governor General´s Literary Awards. Der 2001 veröffentlichte Roman Les Héritiers de la mine war Finalist für den Prix France-Québec Philippe-Rossillon. 2006 erschien Jeanne sur les routes. Der hier besprochene Roman Ein Leben mehr, im Original Il pleuvait des oiseaux gewann zahlreiche Literaturpreise. Die kanadische Regisseurin Louise Archambault plant zurzeit die Verfilmung.

Zur Übersetzerin: Sonja Finck, geboren 1978 in Moers geboren, studierte nach ihrer Ausbildung als Artistin in einer Zirkusschule, Französisch und Spanisch für literarisches Übersetzen. Seit 2004 arbeitet sie freiberuflich als literarische Übersetzerin. Unter anderem übertrug sie Werke von Leslie Kaplan, Val McDermid, John Boyne und vielen anderen. Sie ist Trägerin des André-Gide-Preises, lehrt seit 2010 literarisches Übersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und übersetzt seit 2011 auch Dokumentarfilme für ARTE. Sonja Finck lebt in Berlin und Gatineau (Québec, Kanada).

Jocelyne Saucier
Ein Leben mehr

Originaltitel: Il pleuvait des oiseaux
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Insel Verlag, erschienen am 8.8.2015
Gebunden, 191 S., auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-458-17652-7
19.95 Euro
www.suhrkamp.de




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Bärbel Gerdes