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Beitrag vom 10.11.2016
Lili Grün - Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit... Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg
Christina Mohr
"Du glaubst auf eigene Fasson unglücklich zu werden statt nach der von anderen Leuten. Du glaubst, das ist gar nix. Das ist vielleicht schon alles, was man haben kann." Was zunächst illusionslos und pessimistisch klingt, ist ein ganz pragmatischer Ratschlag, den...
... in Lili Grüns Roman "Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit…" die lebenskluge Mitzi ihrer Freundin Susi Urban gibt.
Denn was haben die zwei jungen Mädchen vom Leben schon zu erwarten? Beide mussten im Wien der Nachkriegszeit, mitten in den "wilden Zwanzigern" viel zu schnell erwachsen werden, Verantwortung für die vater- und bruderlosen Familien übernehmen, Geld verdienen in Jobs, die ihnen nicht gefallen. Oder ihnen überhaupt nicht liegen, wie Protagonistin Susi bitter erfahren muss: "Sie werden niemals eine tüchtige Bürokraft, Fräulein Urban", eröffnet ihr der gestrenge Anwalt Dr. Müller, in dessen Kanzlei sie angestellt ist und dessen freundliche Gattin um Geduld mit der unbegabten Schreibkraft bittet. Doch im Grunde hat er Recht, der Dr. Müller, denn Susi hasst die Schreibmaschine und das Durchschlagpapier. Eigentlich kocht und backt sie viel lieber, doch ihr ist bewusst (vor gut hundert Jahren schon, wohlgemerkt), dass solche Fähigkeiten bei modernen jungen Frauen nicht gerade hoch angesehen sind.
"Genieße ich jetzt meine Jugend?", fragt sie sich und tut ihr Bestes: Sie geht Shimmy und Twostep tanzen mit Mitzi, trifft sich mit jungen Männern, verliebt sich und wird verlassen – alles ganz normal für Teenager. Und trotzdem ist ihr Leben nicht unbeschwert, ganz im Gegenteil. Seitdem der Krieg vorbei und der Vater tot ist, lebt Susi mit der trauernden Mutter und der griesgrämigen älteren Schwester in einer kleinen Wohnung, ein Zimmer, das der straffällig gewordene Bruder bewohnte, wird untervermietet. Das Geschäft, das die Familie einst stolz führte, ist längst geschlossen. Der Erste Weltkrieg brachte keinen Aufschwung, sondern nur Armut und Elend – ähnliche Szenarien werden auch in Romanen wie "Mich hungert" und "Blutsbrüder" beschrieben, doch im Zentrum "Junge Bürokraft…" steht die Geschichte einer jungen Frau, wie nur Lili Grün sie erzählen konnte: Lakonisch und ungeschönt, teils bitter, jedoch niemals verbittert.
Grüns Protagonistinnen sehen trotz berechtigter Zweifel den Silberstreif am Horizont, könnte doch das bessere Leben schon an der nächsten Straßenecke warten. Oder in der Annonce, die Susi Urban aufgibt – vielleicht gibt es für sie ja doch das Recht aufs kleine Glück, und sie muss nicht auf ewig an der Schreibmaschine hocken. Das leise Aufbegehren, das Hin- und Hergerissensein zwischen Vergnügungssucht und Pflichtbewusstsein zeichnete schon die Heldinnen von Grüns Romanen "Alles ist Jazz" und "Zum Theater!" aus, die auch vom heutigen Standpunkt aus modern und zeitgemäß wirken.
AVIVA-Tipp: Lili Grüns Bücher bewegen, weil sie die Gefühlswelt junger Frauen in der sozialen und gesellschaftlichen Realität zeigen. Grün beschönigt nichts, ihr Stil ist klar und direkt, Not und Elend werden ebenso thematisiert wie die Begutachtung der Abendgarderobe.
Zur Autorin: Lili (Elisabeth) Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Sie wuchs als jüngstes von vier Kindern des aus Ungarn stammenden Bartbindenmachers Hermann (Ármin) Grün und seiner Wiener Frau Regine (Regina) im heutigen 15. Gemeindebezirk Rudolfsheim-Fünfhaus auf. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit KünstlerInnen-FreundInnen ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Sie schrieb Gedichte und Geschichten für das Berliner Zeitgeist-Magazin "Tempo" und das renommierte Prager Tagblatt. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Die Wiener Presse bejubelte Lili Grüns Debüt. Nach einem längeren Aufenthalt in Prag und Paris erschien 1935 der Theater-Roman "Loni in der Kleinstadt". Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und im weißrussischen Maly Trostinec ermordet.
Seit 2007 erinnert in der Heinestraße 4 im 2. Wiener Gemeindebezirk ein "Stein der Erinnerung" an das Schicksal von Lili Grün. Im Mai 2009 wurde ein neugestalteter Platz im Bereich Klanggasse/Castellezgasse, ebenfalls im 2. Wiener Gemeindebezirk, nach ihr benannt.
(Quelle: Verlagsinformation, Fembio)
Zur Herausgeberin: Anke Heimberg, 1967 in Pforzheim geboren, Studium der Germanistik, Soziologie und Medienwissenschaften in Marburg und Wien. Sie lebt und arbeitet als freie Literaturwissenschaftlerin und Publizistin in Berlin. Im AvivA Verlag hat sie bereits die Romane "Mädchenhimmel" (2014), "Das weiße Abendkleid" (2006) und "Die Welt ist blau" (2008) der Exilschriftstellerin Victoria Wolff herausgegeben.
Lili Grün
Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit...
Hg. und mit einem Nachwort von Anke Heimberg
Gebunden, fadengeheftet, Lesebändchen
224 Seiten
978-3-932338-86-1
18,00 Euro
AvivA Verlag, erschienen Herbst 2016
www.aviva-verlag.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Mädchenhimmel"Lili Grün
Nach den Romanen "Alles ist Jazz" und "Zum Theater!" veröffentlicht der AvivA-Verlag mit "Mädchenhimmel" eine Sammlung von Lili Grüns Gedichten und Geschichten. Die Lektüre ihrer Romane und anderer Werke ist nicht von der schrecklichen Tatsache zu trennen, dass die in Wien geborene jüdische Schriftstellerin 1942 in einem weißrussischen Vernichtungslager ermordet wurde. (2014)
"Zum Theater" von Lili Grün
Der Roman um die junge, ambitionierte Schauspielerin Loni Holl erschien 1935 unter dem Titel "Loni in der Kleinstadt". Zuvor war das Werk als Vorabdruck im "Wiener Tag" erfolgreich und wurde in der zeitgenössischen Kritik als "ebenso klug wie anmutig" gefeiert. (2011)
"Alles ist Jazz" von Lili Grün
Der Roman erzählt die Geschichte der Schauspielerin Elli, die in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten um 1930 ihr Glück und Auskommen in Berlin sucht. "Alles ist Jazz" ist die Wiederentdeckung der Saison. (2009)