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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 02.04.2017


Christine Wunnicke - Katie
Bärbel Gerdes

Séancen, Chlorodyne, Magnetismus, Spiritismus, Thallium und viel Londoner Nebel – Christine Wunnicke ("Der Fuchs und Dr. Shimamura") unternimmt eine rasante Fahrt ins viktorianische England. Er wabert uns schon vom Cover entgegen, jener dichte Londoner Nebel, der ...




... die Häuser zu Silhouetten verpackt und den Himmel in ein schraffiertes Grau verwandelt, aus dem nur der Name Katie hervorsticht.

Wieder entzückt der Berliner Berenberg Verlag mit einem kleinen, hochwertigen Buchkunstwerk, bei dem Außen und Innen wunderbar übereinstimmen.

Denn drinnen wabert es nicht weniger: wir befinden uns im ausgehenden 19. Jahrhundert, wichtige physikalische und chemische Entdeckungen werden gemacht, die Herren trauen ihren Augen und Sinnen kaum: ist die Telegraphie etwas Ähnliches wie die Telepathie?

Florence Cook, die bereits im Alter von 13 Jahren Erstaunliches an sich feststellte, nämlich "dass sie ihre Hände hinter dem Rücken mit derselben Eleganz und Inbrunst zum Gebet falten konnte wie vorne vor der Brust", avanciert innerhalb weniger Jahre zum berühmtesten materialisierten Medium von ganz London. Ihr Arbeitsplatz: ein Schrank. Gefesselt und geschnürt lässt sie sich dort hineinsetzen, während davor um einen Tisch Damen und Herren der Londoner Gesellschaft auf Stimmen aus dem Jenseits warten, die Florence aus dem Schrank materialisiert.

Bis eines Tages Katie auftaucht, eine wilde Waliser Piratentochter, verstorben 1673, und jetzt auf ihre Erlösung hoffend. Dazu hat sie sich Florence auserwählt, die sie aus dem Totenreich erwecken soll.

Dem gegenüber stehen die Forschungen der Gelehrten. Thallium wird entdeckt von William Crookes, ein weiterer Protagonist des Romans, der berühmte Michael Faraday gibt sich ein Stelldichein und der Laborassistent wiederholt unaufhörlich seine Experimente, um zu validierten Ergebnissen zu kommen.

Wunnickes Spezialität ist es, historische, gerne naturwissenschaftliche Themen aufzugreifen, die sie auf atemberaubende, kluge und witzige Art in feinste Lektüre verwandelt. In diesem Fall stellt sie dem aufblühenden Spiritismus die entdeckende Wissenschaft gegenüber. Was diese gemeinsam haben, erklärt sie in einem Interview im SWR, wo ihr Roman am 6. März 2017 als Buch der Woche vorgestellt wurde: "Das liegt vielleicht daran, weil man sich mit Phänomenen befasste, die auch sehr weit von der faktischen Alltagswahrnehmung weg sind, und da gibt es Berührungspunkte." Und erzählt weiter, dass kolportiert würde, der Morse, der den Morse-Apparat erfand, wollte ursprünglich nur mit seinem toten Bruder kommunizieren.

Katie, die unruhige Seele, nimmt sich unterdessen der verborgenen Sehnsüchte und Träume dieser Menschen an: sie verführt den Laborassistenten und versucht, die Menschen aus ihren gesellschaftlichen Fesseln zu befreien.

Wunnicke schreibt konzentriert, sehr witzig und bringt mit wenigen Pinselstrichen und köstlichen Dialogen alles auf den Punkt. Die 1966 in München geborene Schriftstellerin beschreibt im oben genannten Interview, wie sie ihre Stoffe mehr und mehr kondensiert. "... ich [hab] mich irgendwie reinverliebt in diese Länge, in diese unter 150-Seiten-Länge, … es macht einen großen Spaß, das runterzuschleifen."
Roman-Haiku nennt sie selbst die so entstandenen Werke.

Christine Wunnicke versammelt inzwischen ein sehr besonderes Personal in all ihren Werken, zuletzt den skurrilen Dr. Shimamura, der in Der Fuchs und Dr. Shimamura die Fuchsbesessenheit untersucht und deshalb auf den Spuren der neu entstandenden Psychoanalyse durch Japan, Paris und Berlin wandelt.

Die Grundlagen der Wunnicker Wunderwelt stimmen immer: die Protagonist_innen hat es wirklich gegeben – von Florence Cook bis William Crookes, und selbst Katie hat es gegeben: Sir Conan Doyle, der Sherlock-Holmes-Erfinder, versuchte mit diesem Geist Kontakt zu seinem im 1. Weltkrieg gefallenen Sohn aufzunehmen.

Köstlich und übersinnlich geht es hier zu – und der Berenberg Verlag bestätigt auf dem Cover Es ist alles wahr. Wirklich.

AVIVA-Tipp: Ein Spiel mit Verwirrungen – was ist wahr, was nicht? Christine Wunnicke verwandelt historische Themen sprachlich glänzend und mit viel Erzählfreude in köstliche Roman-Haikus.

Zur Autorin: Christine Wunnicke 1966 in München geboren, studierte in Glasgow und Berlin Linguistik, Altgermanistik und Psychologie und ist neben ihrer schriftstellerischen Arbeit auch als Übersetzerin tätig. 2000 erhielt sie den Bayerischen Förderpreis für Literatur, 2008 den Tukan-Preis. Ihr Roman Der Fuchs und Dr. Shimamura war 2015 für den Deutschen Buchpreis auf der Longlist nominiert. Die Autorin lebt in München.
Mehr Infos zur Autorin unter: www.christine-wunnicke.com

Christine Wunnicke
Katie

Berenberg Verlag, erschienen im Frühjahr 2017
Gebunden, 173 Seiten
ISBN 978-3-946334-13-2
22.00 Euro
www.berenberg-verlag.de

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Christine Wunnicke - Der Fuchs und Dr. Shimamura
Hysterie oder tatsächlich der Fuchs? Die mehrfach ausgezeichnete Autorin und Übersetzerin schreibt von skurrilen Phänomenen im 19. Jahrhundert, die in einer vorzüglichen Ausgabe des kleinen, aber sehr feinen Berenberg Verlags erschienen sind. (2016)


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Beitrag vom 02.04.2017

Bärbel Gerdes