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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.12.2017


Ivana Sajko - Liebesroman
Kristina Tencic

´Liebe tötet, sobald sich die Gelegenheit ergibt.´ Solche wunderbaren Sätze stehen in Ivana Sajkos Liebesroman, der natürlich, das weiß frau, wenn sie das bravouröse Werk der kroatischen Autorin und Theaterregisseurin ...




... verfolgt, das genaue Gegenteil eines Liebesromans ist. Es ist vielmehr ein Zerfleischungsroman, ein Kammerspiel, das ein junges Elternpaar beim Untergang vorführt, und atemlos diesen Hass, dieses Versteckspiel vor sich selbst und der Welt meisterlich porträtiert.

Eine Frau, ein Mann, ein Kleinkind, ein Apartment in einem Mehrfamilienhaus irgendwo in einem südosteuropäischen, ehemals kommunistischen, nun aber zum unbarmherzigen Kapitalismus gewendeten Staat, in dem es keine Arbeit für Leute wie sie gibt, eine ehemalige Theaterschauspielerin, die noch ab und an einen schlechten Werbejob abbekommt, und einen nicht schreibenden, in Lethargie versinkenden Autor. Was bleibt, ist der Überlebenskampf, der nicht miteinander sondern gegeneinander geführt wird.
Am Anfang war natürlich alles anders, die unbeschwerte Verliebtheit, der leidenschaftliche Sex…oder etwa nicht?

"Und sie hörte ihm aufmerksam zu und knetete ihren Schlüpfer in den Händen und starrte in dieselbe Richtung wie er, aber viel weiter in die Ferne, jenseits der glitzernden Wasseroberfläche, auf das offene Meer, ins Schwarze, und als er sie fragte, auf was sie denn starre, antwortete sie: auf nichts, und als er sie fragte, woran sie denke, antwortete sie: an nichts, und als er sie fragte, was mit ihr los sei, antwortete sie wieder: nichts, und er war überzeugt, dieses Nichts zu verstehen, diesen Zustand, in dem du an nichts denkst und in dem du nichts brauchst, außer vielleicht einer Zigarette, da du einfach glücklich bist und dich bemühst, diesen Zustand festzuhalten, er glaubte wirklich, dass sie an diesem beschissenen Strand sitze, wunschlos, Auge in Auge mit der Dunkelheit, und dass sie genauso wie er die Ungewissheit genieße und dass sie ebenfalls sterben könne, genau jetzt, während alles noch an seinem Platz ist, unbeschädigt, solange sie noch nicht begonnen haben, sich gegenseitig zu verachten, aufgrund unerfüllter Versprechungen, Schwächen, Faulheiten, Egoismen, dummer Kleinigkeiten, verfluchter Mieten, solange sie noch glauben, dass die Liebe jemanden retten, nähren könne, dass die Liebe das Zerschlagene verbinde, dass die Liebe stillschweigend Antworten auf die schwierigsten Fragen biete und dass sie Gott sei Dank kostenlos sei."

AVIVA-Tipp: Für solche und noch so viele andere seitenlange ohne Punkt herausgeschleuderten, ja herausgewürgten Sätze kann die Leserin Ivana Sajko nur lieben. Sätze, die scheinbar aus einer solchen Tiefe kommen, dass die Autorin sich ihrer einfach entledigen musste, Sätze, die voller Dynamik und Rhythmus stecken und schnell gelesen, aber keineswegs schnell verdaut werden.

Im Vorbeifliegen liefert sie in zwei Sätzen eine der klügsten Beschreibungen des Krieges in Südosteuropa in den 90er Jahren (ab Seite 70), wechselt mal in seinen, mal in ihren, mal in den Kopf des Kindes, beschreibt all die Enttäuschung, die ein Erwachsenenleben in vielen Fällen mit sich bringt, und die wunderbare Komplexität von Beziehungsgeflechten.

Klug hat Ivana Sajko bei ihrem neuen Roman darauf geachtet, nicht in die Falle der "Balkanautorin" zu tappen, und legt ihrer "Liebesgeschichte" eine beachtenswerte Universalität zu Grunde, die keine Namen nennt und doch von ihrer Leserschaft verstanden wird. Das legt bereits der Titel nahe - "Liebesroman" - universeller geht nicht.

Das lässt sich natürlich nachvollziehen in der Logik einer aufstrebenden Autorin, die jedes Recht dazu haben soll, ihre Leser*innenschaft zu erweitern und zu verbreitern. Aber vielleicht müsste sie gar keine Angst davor haben, als südosteuropäische Autorin "gebrandmarkt" zu werden sondern dieses Spezifikum weiterhin kultivieren und ausbauen.

Zur Autorin: Ivana Sajko (geboren 1975 in Zagreb, Kroatien) ist Autorin, Regisseurin, Performerin, Mitgründerin der Theatergruppe "BAD co." und Redaktionsmitglied des Kunstmagazins "Frakcija". Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen gehört die "Chevalier de l´ordre des Arts et Lettres". Auf Deutsch erschienen bisher Rio Bar, "Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa", "Trilogie des Ungehorsams" und "Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution)".

Ivana Sajko
Liebesroman

Verlag Voland & Quist, erschienen Oktober 2017
Gebundenes Buch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-863911-89-8
18,00 Euro
Mehr zum Buch und Lesungstermine unter: www.voland-quist.de

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Rio Bar von Ivana Sajko
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Mit ihrem dritten Buch bestätigt Marica Bodrozic, dass sie eine ausgezeichnete Beobachterin ist, die sich keinem literarischem Genre beugen muss. Sie nimmt uns mit auf ihre tiefgründige Suche nach dem Verstehen des Unverständlichen: Der Conditio Humana, uns selbst und dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien. (2015)

Jagoda Marinic - Restaurant Dalmatia
Feinfühlig porträtiert die deutsch-kroatische Schriftstellerin, Journalistin und Theaterautorin die Verbunden- und Zerrissenheit einer sogenannten Gastarbeiterfamilie aus Ex-Jugoslawien in Berlin und erzählt dabei scheinbar im Vorbeigehen die Geschichte Europas der letzten zwei Jahrhunderte. (2014)

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Nach dem Erfolg von "Das Gedächtnis der Libellen" widmet sich die im ehemaligen Jugoslawien geborene Autorin mit der ihr eigenen Syntax im zweiten Teil ihrer Trilogie dem Erinnern und Vergessen. (2012)

Zwischen uns das Paradies
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Here and there
New York - Belgrad. Hier und da gibt es Freud und Leid, was in Hollywood-Filmen allerdings selten zum Vorschein kommt. Darko Lungolov beschreibt feinfühlig und authentisch eine Lebenswelt, in der geographische und ideologische Grenzen verschwimmen und der schönste Ort der Welt ein Balkon in einer Plattenbausiedlung sein kann. (2010)

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Beitrag vom 04.12.2017

Kristina Tencic