Emily Ruskovich - Idaho - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 24.05.2018


Emily Ruskovich - Idaho
Bärbel Gerdes

Ein Wald im Nordwesten der USA. Ein Elternpaar belädt seinen Pickup mit Holz für den Winter. Ihre beiden Töchter spielen im Wald. Kurze Zeit später ist die ältere der beiden verschwunden, die jüngere von ihrer Mutter mit einer Axt erschlagen. Dieses Buch einen Krimi zu nennen, wäre tiefstes Understatement.




Idaho ist einer der eher dünn besiedelten Bundesstaaten der Vereinigten Staaten. Seine Landschaft ist geprägt von rauhen Bergen und unberührten, verlassenen Gegenden.
In Unberührtheit und Verlassenheit zieht uns auch der Debutroman Emily Ruskovichs, der bereits jetzt auf zahlreichen Shortlists renommierter Literaturpreise zu finden ist, ein unglaublich klug komponierter, spannender und die Aufmerksamkeit der Leserin angenehm fordernder Text. Denn die Handlung zieht sich über viele Jahrzehnte, vom Jahre 1973 bis ins Jahr 2025. Zeitsprünge und Perspektivenwechsel setzen nach und nach ein Gesamtbild zusammen. Jedes Kapitel liefert ein weiteres Puzzlestück.

Ann wohnt mit Wade zusammen in einem Haus auf dem Berg, auf dem er einst mit seinen beiden Töchtern und seiner Frau Jenny zusammenlebte. Kaum etwas hat Wade erzählt von dem, was damals im Wald geschah, und doch ist die Vergangenheit täglich präsent. Ann macht sich auf die Spurensuche. Sie möchte verstehen. Hat sie zu diesem Verbrechen beigetragen? Der Gedanke, "Ich bin hier, weil du nicht hier bist", quält sie. Ann folgt jeder Spur, die sich im Haus befindet - Briefe, Fotografien, Bilder der beiden Mädchen - und präsentiert sich und damit auch uns als Leserinnen eine Geschichte, von der wir nie ganz sicher sein können, ob sie auch stimmt.

Ann muss das Geschehene schnell aus Wade hervorlocken, der an einer zunehmenden Demenz leidet. Seine unvorhersehbaren Aggressionsausbrüche nehmen zu wie seine Verzweiflung über sein allmähliches Verschwinden. Immer stärker werden seine einstige Frau und seine Töchter zu Schemen. Doch manchmal spürt Ann, wie sehr Wade sich nach seinen Töchtern sehnt und sie "spürte zum ersten Mal den Schmerz der unausgesprochenen Logik, die sie für immer in sich tragen würde: Wenn er sich nach seinen Töchtern sehnte, sehnte er sich auch danach, dass Ann nicht seine Frau war."

Diese sitzt zu lebenslanger Haft verurteilt im Gefängnis. Auch ihr Leben entschwindet und entlässt sie in eine abgrundtiefe Einsamkeit, die sie nur aushalten kann, indem sie bis zur totalen Erschöpfung die Böden schrubbt. Jeden Wunsch versagt sie sich, weil sie nicht daran glaubt, dass es richtig wäre, wenn ihr Gutes geschähe. Elizabeth, ihre Zellengenossin, versucht zaghaft, sich mit Jenny anzufreunden.

Emily Ruskovich hat ein sehr sinnliches Buch geschrieben. Das Eintauchen eines der Mädchen in eine Tonne mit kühlem Wasser, die Klaviermusik, die Ann spielt, das Aufnehmen der Fährte eines Bluthundes, der die verschwundene Tochter sucht, all dies beschreibt die Autorin mit einer tiefen und schönen Empfindsamkeit und Sprache. Jedem ihrer Charaktere wendet sie sich mit Mitgefühl und Verständnis zu.

Vergessen und Erinnern, die Erkenntnis, plötzlich in einer Geschichte zu sein, die nicht die eigene ist, aber dazu wird, sind die großen Themen dieses beeindruckenden Romans, den Stefanie Jacobs grandios ins Deutsche übersetzt hat.
"Wie leicht wir uns doch auflösen. Wie schnell doch das Leben eines anderen durch die Risse hereinsickert, von denen wir nicht wissen, dass sie existieren, bevor dieses Fremde in uns eingedrungen ist. Wir sind durchlässiger als uns bewusst ist."

AVIVA-Tipp: Eine uneingeschränkte Empfehlung für Leserinnen, die es lieben, beim Lesen zu denken. Bis auf die letzte Seite vermag Emily Ruskovich die Spannung zu halten. Großartig!

Zur Autorin: Emily Ruskovich wuchs in der Idaho Panhandle on Hoodoo Mountain auf. Ihre Artikel erscheinen in Zoetrope, The Virginia Quarterly Review, One Story, The New York Times, The Paris Review, und LitHub. Ihr Debutroman Idaho befindet sich auf der Shortlist des Dylan Thomas International Preises, des Edgar Allen Poe Awards für den besten ersten Roman, und dem New York Library´s Young Lion´s Award. Sie wurde mit dem O. Henry Award und dem Pacific Northwest Book Award ausgezeichnet. Emily Ruskovich ist Absolventin des Iowa Writers´ Workshop und unterrichtet Creative Writing an der Boise State Universität. Sie lebt in Idaho City.
Mehr Infos zu Emily Ruskovich: www.emilyruskovich.com

Zur Übersetzerin: Stefanie Jacobs, geboren 1981, studierte in Düsseldorf Literaturübersetzung und übersetzte Autorinnen und Autoren wie Miranda July, Lauren Groff und Anthony Marra sowie Musiker wie Nick Cave und Neil Young. Sie lebt in Wuppertal.

Emily Ruskovich
Idaho

Originaltitel: Idaho
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
Hanser Berlin, erschienen Februar 2018
Gebunden, 384 Seiten
ISBN 978-3-446-25853-2
24.00 Euro
www.hanser-literaturverlage.de


Literatur

Beitrag vom 24.05.2018

Bärbel Gerdes