Radka Denemarková - Ein Beitrag zur Geschichte der Freude - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 10.03.2019


Radka Denemarková - Ein Beitrag zur Geschichte der Freude
Bärbel Gerdes

Sollte es jemals eine Liste der wichtigsten Werke zur sexualisierten Gewalt gegen Frauen geben, dann gehört dieser Roman ganz sicher dazu. Die tschechische Autorin Radka Denemarková entfaltet in ihrem neuen Roman ein Welt und Zeit umspannendes Panorama dieser Gewalt und ihrer Bagatellisierung und Banalisierung. Wie gut, dass es drei alte Frauen gibt, die dies nicht schweigend hinnehmen.




Für Radka Denemarková war der Auslöser für das Schreiben dieses Romans eine Begegnung während einer Lesung ihres Romans Ein herrlicher Flecken Erde. In ihm geht es auch um die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Interview mit dem Deutschlandfunk erzählt sie in deutscher Sprache: "Im Publikum war ein aggressiver Mann, und der hat mich gefragt, wann werden endlich die Menschen, die von Tschechen vertrieben wurden, entschädigt. Darauf habe ich spontan gesagt, dass mich mehr interessiert, wann werden entschädigt alle Frauen, die damals vergewaltigt wurden von den Soldaten aller Armeen. Der hat gesagt: ´Ja, aber sie wurden nur vergewaltigt.´ Nur! Und dieses Wort ´nur´ hab ich mir wirklich nach Hause genommen wie heißer Stein oder Messer in meinem Rücken."

So schrieb sie bereits 2011 diesen Roman, der bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Es scheint, sexualisierte Gewalt wird endlich auch in den Verlagshäusern ernst genommen – sicherlich ein Verdienst der #MeToo-Debatte.

Einen erstaunlichen Roman hat die Autorin, Dramaturgin, Übersetzerin, Drehbuchautorin und Essayistin geschrieben. "Die Güte der Schwalben hat ein größeres Gewicht als die Gesetze der Herrscher."
Die Schwalben begegnen uns im ganzen Buch. Die Schwalben fliegen und twitschern. Die Schwalben sammeln Beiträge für die Geschichte der Freude. Sex ist Freude. Die Schwalben sammeln Beiträge über Männer und Frauen über die Jahrhunderte hinweg.Dabei sind sie auf ein Schlachtfeld gestoßen, das keine Friedenszeiten kennt. Ein stilles Abkommen, ein Gebiet, das nicht frei ist und es nie sein wird, das von jedermann erobert werden darf, wo bis heute jedem alles erlaubt ist... Es trägt den Namen der Körper der Schwächeren. Gegen den Sieger Anzeige zu erstatten, bringt nichts.

In einer schmerzhaft klaren und direkten Sprache berichtet Denemarková von diesem Schlachtfeld. Und von den drei alten Frauen, die ihm etwas entgegensetzen.

Ein reicher Geschäftsmann wird auf dem Dachboden, den man in seinem Haus Loft nennt, tot aufgefunden. Anscheinend hat er sich erhängt. Da er eine schöne junge Witwe hinterlässt, die dem Ermittler gefällt und die er wieder sehen will, zweifelt er diesen Suizid an und ermittelt wegen eines mutmaßlichen Mordes. Ihr Mann habe einen Roman über die gepeinigten Männer schreiben wollen, erzählt ihm die Witwe. Es habe ihn aufgeregt, was heutzutage alles so vor sich gehe.
Was vor sich geht, ist, dass mehrere Mitarbeiterinnen ihn des sexuellen Missbrauchs und der Vergewaltigung beschuldigten. Das Verfahren wurde eingestellt.

Die Autorin und Lehrerin in Creative Writing Birgit Stadtherrová, die Yoga-Lehrerin Diana Adler und die Filmemacherin Erika Eis haben sich zusammengetan. Sie spinnen ihre Netze, sie beobachten die Welt, sie helfen und unterstützen Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Sie sehen, was passiert: Die jungen Leute werden von aggressiven Körpern aus Filmen attackiert. Die aus dem Internet schwappen, auf sie zurollen, jeder kann dort hin, jeder hat Zugang zu Pornos und zu der Vorstellung, aggressiver Sex oder Erniedrigung seien eine adäquate Form des Liebemachens. Eine junge Frau steht Diana gegenüber, und es ist nicht klar, ob die roten Striemen, die um ihre Lippen verlaufen, das Resultat von Haarentfernung durch Wachs ist oder ob man ihr den Mund mit Klebeband zugeklebt hat.
Julie ist durch eine Vergewaltigung schwanger. Diana erklärt ihr, wie wichtig es sei, den Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen, damit Julie nicht Erfahrungen wiederholt, an die sich ihr Bewusstsein nicht erinnert, ihr Körper hingegen sehr wohl.

Die drei alten Frauen sind nirgends wirklich zu Hause. Sie reisen durch die Welt, denn das, wogegen sie kämpfen, kennt keine Grenzen. Und es kennt keine Zeiten. Ingrid, die sich zum Schluss Wiesenthal nannte, ist tot. Sie hat sich das Leben genommen. Sie hat die Vergewaltigungen in deutschen Konzentrationslagern erlebt. Ingrid gründete eine Organisation, die ihre Verbrecher selbst jagen wollte. Sie kämpfte dafür, dass Vergewaltigung als Kriegsverbrechen ersten Grades anerkannt würde und wurde dafür heftig ausgelacht. Sie würde ein großes Archiv anlegen. Kein Täter sollte sich mehr sicher fühlen. Ingrid verfügte über Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen, die für die sowjetische Nomenklatura, für amerikanische, englische, japanische, brasilianische … Staatsoberhäupter arbeiteten. Nachdem Simon Wiesenthal sich von den Aktivitäten dieser wahnsinnigen und hysterischen Frauen distanzierte, flossen ihm Gelder von höchsten Stellen zu. Die Frauen störten die Ordnung und brächten die Schubladen durcheinander, denen man Sieger und Schuldige zuordnete.

In einem kleinen Haus in Prag, das dem Ermittler schließlich auffällt, stößt er auf dieses Archiv. Er findet Berichte über Kriege in der Welt. Er findet Berichte über den Zweiten Weltkrieg: in einem einzigen Krieg sind es Soldaten der Wehrmacht gewesen, der Roten Armee und der japanischen Armee, auch polnische Namen kommen vor, französische, tschechische, slowakische, ungarische... Entschädigungen oder Entschuldigungen gab es keine für die Frauen.

Wer sollte auch Körper entschädigen, die massenhaft vergewaltigt wurden von allen Männern der Welt?... Diese Körper wurden von Panzerketten einer einzigen Armee zermalmt, der Weltmännerarmee, einer jubelnden, einheitlichen und bis über das Grab hinaus solidarischen Armee.
Der Ermittler liest von einem Dorf in Mali, das junge Frauen zwingt, Wasser zu holen, obwohl bekannt ist, dass sie unterwegs von Kämpfern aller feindlichen Seiten vergewaltigt werden. Er liest von der Geilheit des amerikanischen Präsidenten – nein, nicht Trump! John F. Kennedy ist gemeint – der sich Frauen ins Weiße Haus zuführen ließ. Er liest von den vergewaltigten Frauen in Indien.

Doch er liest auch Diana Adlers Buch über das Gedächtnis des Körpers, in dem beschrieben wird, wie der Körper die Wunden konserviert und einbetoniert, weshalb eine rein sprachliche Aufarbeitung auch nicht funktionieren kann. Er liest davon, dass es bei Vergewaltigung um Erniedrigung geht, um Schuldgefühle und um Scham.
Radka Denemarková hält die Leserin in der Ungewissheit, was der Ermittler mit diesem Wissen machen wird.

Doch auch mit den Frauen rechnet die Autorin ab, die die Eigenliebe der Männer nähren und ermöglichen, die herrschen und schweigen, die um ihre Männer kreisen und dienen und sich vor jeder jüngeren Frau fürchten. Die ihren Körper eingeparkt haben – und die Wahrheit. Sie schreibt von der Rechtsanwältin, die sich weigert, einen alten Vergewaltigungsfall wieder aufzurollen. Und wenn Ihrer Tochter so etwas passiert wäre? fragt Diana entsetzt.
Meiner Tochter würde so etwas nie passieren. Sie ist gut erzogen.

AVIVA-Tipp: Selten gab es einen so allumfassenden, zornigen und mitfühlenden Roman über sexualisierte Gewalt. Radka Denemarková hat mit Ein Beitrag zur Geschichte der Freude einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Gewalt gegen Frauen geschrieben, die immer noch viel zu wenig Gehör findet.

Zur Autorin: Radka Denemarková wurde 1968 geboren. Sie studierte Germanistik und Bohemistik an der Karls Universität und promovierte 1997. Sie forschte am Institut für Tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik und war als dramaturgische Beraterin am Divadlo Na Zábradlí Theater in Prag tätig. Die tschechische Autorin, Übersetzerin, Drehbuchautorin, Essayistin und Dramaturgin veröffentlichte mehr als 20 Bühnenstücke und 16 Romane. Ihre Werke und Übersetzungen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter den Usedom Literaturpreis (2011) und den Georg-Dehio-Buchpreis (2012). Ihr Roman Ein herrlicher Flecken Erde gewann den prestigereichen Magnesia Litera Preises für das beste Prosawerk des Jahres. Seit 2004 arbeitet Radka Denemarková freischaffend. Mit ihrer Tochter und ihrem Sohn lebt sie in Prag. Mehr über die Autorin Radka Denemarková: denemarkova.eu

Zur Übersetzerin: Eva Profousová wurde 1963 in Prag geboren und lebt seit 1983 in Deutschland. Sie studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Hamburg und Glasgow. Sie übersetzte u.a. Radka Denemarková, Jaroslav Rudiš, Martin Šmaus, Jáchym Topol, Kateřina Tučková, Michal Viewegh und Petr Zelenka. Zudem setzt sie sich für die Vermittlung der Kultur des östlichen Europas ein, indem sie moderiert, liest und rezensiert. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Georg-Dehio-Buchpreis (2012) und dem Usedomer Literaturpreis (beide für die Übertragung von Radka Denemarkovás Roman Ein herrlicher Flecken Erde. Sie lebt in Berlin.
Mehr Infos zur Übersetzerin Eva Profousová: postkartell.org

Radka Denemarková
Ein Beitrag zur Geschichte der Freude

Orginaltitel: Příspěvek k dějinám radosti
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Hoffmann und Campe Verlag, erschienen im Februar 2019
336 Seiten, Pappband mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-455-00511-0
24,00 €
Mehr zum Buch: www.hoffmann-und-campe.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Interview mit Radka Denemarková
Aus einem Gespräch mit der tschechischen Schriftstellerin Radka Denemarková anlässlich des Erscheinens von "Ein herrlicher Flecken Erde" September 2009 in Prag.

Radka Denemarková - Ein herrlicher Flecken Erde
Der Roman, für den die Autorin 2007 mit dem tschechischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, wirft einen kompromisslosen Blick auf die verdrängte deutsch-tschechische Nachkriegsgeschichte. (2007)


Literatur

Beitrag vom 10.03.2019

Bärbel Gerdes