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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 22.02.2022


Esther Kinsky – Rombo
Silvy Pommerenke

Nur 59 Sekunden dauerte ein Erdbeben im Mai 1976 im Friaul, rund um den Monte San Simeone, das nahezu 1.000 Todesopfer und zehntausende Obdachlose forderte. Im September desselben Jahres folgten andere Beben, die zu weiteren Verwüstungen führten. Esther Kinsky hat sich diesen erschütternden Ereignissen literarisch angenommen.




Il Rombo ist ein geflügeltes Wort der italienischen Einwohner*innen, und sie verstehen darunter die eigentümlichen, unheimlichen, grollenden Geräusche, die einem Erdbeben vorausgehen. Sieben Augenzeug*innen berichten in Esther Kinskys neuem Roman "Rombo" über dieses beunruhigende Grollen, das tief aus der Erde kommt und das der Vorbote für ein einschneidendes Ereignis ist. Ein Ereignis, das die Zeitrechnung in ein davor und ein danach einteilen wird, wo nichts mehr ist, wie es mal war: "Die Luft ist voller Geräusche, vom fernen Donnern aus den Bergwänden bis zum Ächzen von Bäumen in den Gärten, dem Bersten von Holz in den Dächern, dem Splittern von Glas und den grollenden trockenen Poltern von Stein. Menschenstimmen in grellster Aufregung, um Obdach gebracht, nach Nächsten suchend, aus Verschüttungen schreiend, Trümmer packend, wälzend, rufend, heulend, ein Jammern in der Dunkelheit."

Ausgelöst werden diese Beben durch die Verschiebung tektonischer Platten. Ein Naturereignis, das sich bereits vor 25 Millionen Jahren ereignete, und durch den Zusammenstoß der Afrikanischen mit der Eurasischen Platte die Alpen entstehen ließ. Was sich als nüchterne seismologische oder geologische Tatsache liest, ist für die Betroffenen viel mehr als das. Ein Dorfbewohner beschreibt es so: "Was ist ein Erdbeben? Ein Erdbeben ist doch, als bewegte sich etwas Gewaltiges im Traum. Oder als wäre einem Riesen nicht wohl im Schlaf. Und das Erwachen ist eine neue Ordnung der Dinge in der Welt. Da wird der Mensch mit seinem Leben so klein wie der kleinste Stein im Fluss."

Wie von 09/11 der Gegenwart, so weiß auch jede*r Bewohner*in vom Friaul, was er oder sie damals getan hat. Sieben Dorfbewohner*innen hat die Autorin exemplarisch herausgegriffen - Anselmo, Gigi, Lina, Mara, Olga, Silvia, Toni - und ihnen eine Stimme gegeben, mit der sie das Vorher, das Währenddessen und das Danach aus ihrer Perspektive schildern. Es gibt viel Deckungsgleichheit bei dem Erlebten - in der Angst sind scheinbar alle gleich. Und diese Angst, die bleibt. So auch die Gedanken daran: "Bis heute wache ich manchmal nachts auf, und meine, ich hätte Staub im Mund. Dieser Geschmack von Mörtelstaub und Kalk. Jetzt werde ich ersticken, denke ich dann, jetzt bin ich unter Trümmern verschüttet und werde ersticken. In meiner Nase und im Mund ist noch diese Erinnerung, wie eingestempelt, und ich weiß nie, wann sie aufwacht."

Auch wenn "Rombo" zu der Gattung des Romans zählt, so hat die Autorin ihn vielmehr wie ein lyrisches Sachbuch oder einen dokumentarischen Reise- und Naturbericht gestaltet, der durch die Augenzeug*innenberichten des Erdbebens und des Wiederaufbaus, von Anekdoten, Legenden und Sagen unterbrochen wird. Ihre Naturbeschreibungen gleichen einer poetischen Liebeserklärung an die italienische Flora und Fauna: "Der Fluss trägt ab, legt ab, wäscht aus, unterspült, führt mit, sickert, murmelt, stürzt und atmet sich in Scheinseen aus. Will hierhin und dahin, von der Kürze seines Wegs ablenken, immer wieder die granitenen Findlinge auf ihre kalksteinfremde Herkunft befragen."

Der Sprachduktus ist fast durchgängig lyrisch gehalten: "Hat der Berg eine Erinnerung? Erhalten sich irgendwo Schritte, Klänge, die tastenden, klammernden, rutschenden, schürfenden Griffe von Händen, die schlurrenden, wetzenden, suchenden Tritte, die Hufe von Tieren, das Streifen von Flügeln, das Wetzen von Schnäbeln am Stein?" Diese literarische Form ist der Liebe Esther Kinskys zur und den Übersetzungen von Lyrik geschuldet. Auch ihre frühere Prosa ist durchzogen von diesen lyrischen Elementen, wie in "Sommerfrische" (2009), "Balasko" (2011) oder "Am Fluss" (2014), ein Roman, der vierfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis, der ihr parallel für ihr Gesamtwerk verliehen wurde.

Esther Kinsky hat sich das Erinnern als Aufgabe gestellt, und dürfte mit "Rombo" erneut eine Anwärterin für den W.-G.-Sebald-Literaturpreis 2022 sein, der "Erinnerung und Gedächtnis" zum Thema Natur und Zerstörung ausgeschrieben hat.

Umso mehr verwundert es, dass Esther Kinsky den politisch umstrittenen Literaturnobelpreis an Handke sehr begrüßte, den an Olga Tokarczuk jedoch gegenüber dem Deutschlandfunk Kultur mit der Begründung ablehnte, man hätte ihn aus politischen Gründen (sic!) eher einer Schwarzen Frau geben sollen.

AVIVA-Tipp: In poetischer und lyrischer Sprache nähert sich Esther Kinsky einer schicksalhaften Naturkatastrophe an, die vor knapp 50 Jahren im italienischen Friaul stattgefunden hat. Die Erdbeben von 1976 haben viel Unglück gebracht und die Leidtragenden, für die es ein Riss in der Zeit war, bis heute nachhaltig geprägt. Kinsky gibt ihnen eine lyrische Stimme gegen das Vergessen.

Zu Esther Kinsky: wurde 1956 geboren und stammt aus der Nähe von Bonn. Sie studierte in Bonn Slawistik, allerdings ohne Abschluss, da sie von der Universität verdrossen war, lebte in Kanada, London und aktuell in Berlin und zeitweise in Ungarn. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet. Unter anderem dem Warwick Prize for Women in Translation 2021, dem W.-G.-Sebald-Literaturpreis 2020, dem Internationalen Hermann-Hesse-Preis 2018 oder dem Paul-Celan-Preis 2009.
Mit ihrer intensiven Auseinandersetzung, detailreichen Schilderung und kontemplativen Besinnung auf die Natur zählt Esther Kinsky zu den Autor*innen des sogenannten Nature-Writings, deren Vorläuferin unter anderem Susan Fenimore Cooper war. In der Gegenwartsliteratur finden sich Annie Dillard oder Mary Oliver als Vertreterinnen dieser Gattung wieder.

Esther Kinsky - Rombo
Suhrkamp Verlag, erschienen 02/2022
Gebundenes Buch, 267 Seiten
ISBN 978-3-518-43057-6
Euro 24,00
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de

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Beitrag vom 22.02.2022

Silvy Pommerenke