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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 21.05.2009


Hilke Gerdes - Türken in Berlin
Yvonne de Andrés

Merhaba Berlin, eine Beziehung zwischen Euphorie und Enttäuschung. Das heutige türkische Leben in der Stadt ist mehr als die Klischees von Döner Kebab, Raki, Problemfällen und Folklore.




"Wird ein Türke Berlins Oberbürgermeister?" Das war keine wirkliche Frage, sondern die populistische und wenig freundliche Schlagzeile der Berliner Tageszeitung "Vorwärts" am 19.11.1946. Ernst Reuter, der aus dem türkischen Exil nach Berlin zurückkam, sollte diskreditiert , den BerlinerInnen ein Schock verpasst werden. Die Sache ging nach hinten los. Ernst Reuter ist bis heute einer der am besten erinnerten Bürgermeister Berlins.

Das "Fremde" zu stigmatisieren, funktioniert heute nur noch in einem geringerem Maße. Türkischstämmige MandatsträgerInnen sind zunehmend auf den Listenplätzen der Parteien zu finden. Obwohl es weiterhin schwierig ist, sich als Vertreterin der Minderheits-Gellschaft durchzusetzen.
In Berlin leben heute annähernd 200.000 BerlinerInnen mit einem "türkischen Migrationshintergrund". In allen Bereichen des öffentlichen Lebens findet frau heute TürkInnen. Sei es die erste türkischstämmige Abgeordnete im Berliner Parlament Sevim Celebi-Gottschlich, die Schauspielerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar oder die Objektkünstlerin Ayse Erkmen, die zwischen Berlin und Istanbul pendelt.

Der sich langsam abzeichnende kulturelle Wandel hat eine lange Vorgeschichte. Anschaulich aufbereitet hat dies Hilke Gerdes, die sich mit der Geschichte des türkischen Berlin beschäftigt. Der Bogen ist dabei weit gespannt. Er reicht vom höfischen Gesandten des osmanischen Reiches in Preußen, Ahmed Resmi Efendi, bis hin zu den ersten MigrantInnen in den sechziger Jahren und dem türkischen Alltag in Berlin heute.

Die früheren Perioden des türkischen Berlin werden nur knapp nachgezeichnet. Ausführlicher wird die Schilderung nach dem Ende des ersten Weltkriegs. In den 1920er Jahren wird Berlin Ort des Exils für Intellektuelle und für jung-türkische Regierungsmitglieder wie Enver Pascha und Mehmet Talat Pascha. Seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 wird der wissenschaftliche und kulturelle Austausch intensiviert.
Auch in der Nazizeit rissen die Beziehungen nicht ab. Zwar nahm die Türkei einige deutsche Flüchtlinge auf, wie zum Beispiel Ernst Reuter, pflegte jedoch weitgehend freundschaftliche Beziehungen zu NS-Deutschland, die erst gegen Ende des Krieges frostiger wurden. 1940 studierten immerhin 333 TürkInnen an deutschen Hochschulen. Unter den StudentInnen befanden sich auch Frauen wie Malahat Togar, die zahlreiche deutsche DichterInnen in die türkische Sprache übertrug.
Eine Anmerkung von Sefik Okday, eines Studenten der Ingenieurswissenschaften (1930 – 1936) in Deutschland: "Wer aus Nazi-Perspektive `jüdisch´ aussah, musste mit körperlicher Gewalt rechnen." Die Situation der türkischen Studenten in Deutschland ist jedoch insgesamt ein noch wenig erforschtes Kapitel.
Besonders ausführlich beschäftigt sich das Buch mit dem türkischen Berlin nach dem 2. Weltkrieg. Mit dem Anwerbeabkommen der Bundesrepublik mit dem türkischen Staat, das Ende Oktober 1961, kurz nach dem Mauerbau, unterzeichnet wird, nahm die Zahl der türkischen Arbeitskräfte in Berlin signifikant zu.
Die ersten "GastarbeiterInnen" waren häufig einfache junge Türken vom Lande, die in un- und angelernten, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen tätig waren. Ende Januar 1972 bildeten die TürkInnen unter den Ausländern die größte ArbeitnehmerInnen-Gruppe in der Stadt. 79.468 türkische ArbeitnehmerInnen kamen bis zum Ende des Anwerbungsstopps 1973 nach Berlin.

Integration der Arbeitskräfte in die Gesellschaft war von der Politik aufgrund der "Rotation" der "GastarbeiterInnen" nicht vorgesehen. Die verantwortlichen MandatsträgerInnen hatten das "zurückgehen" in das Heimatland geplant. In den siebziger Jahren fand jedoch ein fundamentaler Wandel statt. Die ehemalige starke Motivation zur Rückkehr wurde ersetzt durch den Wunsch zu bleiben. Der Auszug aus den Wohnheimen in günstige Wohnungen und Quartiere wie Kreuzberg, Wedding, Tiergarten erfolgte. Die Struktur der türkischen Community in Deutschland wurde immer komplexer. Die politischen Parteien mussten umdenken und über Einwanderung und Integration nachdenken und handeln. Die Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung und Integration standen danach im Mittelpunkt.

Die Autorin skizziert am Ende ihres Buches, wie aus dem kurzen Sprint um Integrationskonzepte 1981 plötzlich ein Rennen um eine Begrenzungspolitik wurde. Wie die Republikaner erstmals im Abgeordnetenhaus saßen und mit Heinrich Lummers ausländerfeindlichen Polemiken die Angst vor "Überfremdung" schürten.
Der nächste wichtige Einschnitt in der Geschichte des türkischen Berlin war der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung. Weil damit auch die Subventionen für die Wirtschaft in West-Berlin wegfielen, wurden Arbeitsplätze in großer Zahl abgebaut. 44.000 TürkInnen waren davon betroffen.
In einem Ausblick beschäftigt sich das Buch mit der Entwicklung der Alternativ-Kultur und deren neuen Freiräumen in seiner Bedeutung für das türkische Berlin, aber auch mit dem 1991 neu in Kraft tretenden Ausländerrecht, dem Ringen um das neue Staatsbürgerrecht und das Einwanderungsgesetz. Die Leserin findet in diesem Buch nicht nur in historischer Hinsicht einen gut handhabbaren Einstieg. Am Ende des Buches hat Hilke Gerdes auch die wichtigsten Adressen zusammengetragen. Frau kann sich nach der Lektüre also auch mit eigenen Augen überzeugen gehen. Ein wirklich gelungenes Buch.

Zur Autorin: Hilke Gerdes, geboren 1964, studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik in Berlin, Rom und Washington. Sie arbeitete mehrere Jahre als Lektorin im Sachbuchbereich, seit 1998 ist sie Freiberuflerin. Von 2003 bis 2006 lebte sie in Bukarest und war für das Goethe Institut tätig. Sie schrieb u. a. für das Online-Magazin "Perlentaucher" die Reportageserie "Post aus der Walachei". 2007 erschien von ihr "Rumänien. Mehr als Dracula und Walachei". Zurückgekehrt nach Berlin-Kreuzberg, arbeitet sie derzeit als Autorin und Lektorin. Hilke Gerdes ist Mitglied des VFLL (Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren e.V.)

AVIVA-Tipp: "Türken in Berlin" ist eine knappe Übersicht über fast 300 Jahre deutsch-türkisches Zusammenleben in Berlin. Journalistisch, sachlich und präzise führt Hilke Gerdes in die vielfältige und wechselhafte Verbindung zwischen Berlin und seine türkische Minderheit ein. Sie räumt mit Klischees und Vorurteilen auf ermöglicht eine politische, künstlerische, wirtschaftliche und kulinarische Annäherung an die größte nicht-deutsche Community in Berlin.

Hilke Gerdes
Türken in Berlin

be.bra Verlag, erschienen März 2009
kartoniert, 223 Seiten mit zahlr. Abb.
ISBN: 978-3-8148-0163-6
19,90 Euro

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"Der Multikulti-Irrtum" von Seyran Ates.

"Selam Berlin" von Yadé Kara.

Weitere Infos unter:

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Beitrag vom 21.05.2009

Yvonne de Andrés