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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 24.06.2009


Ljudmila Ulitzkaja - Daniel Stein
Claire Horst

Die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja ist längst keine Unbekannte mehr. Ihre Romane und Erzählungen wurden in viele Sprachen übersetzt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Für ihren neuen...




... Roman "Daniel Stein" erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Aleksandr-Men-Preis 2008. Dieser Preis wird an Personen vergeben, die sich für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland einsetzen.

Der Roman erzählt die Geschichte des polnischen Juden Daniel Stein, die sich kaum in einem Satz zusammenfassen lässt. Seine Eltern kommen im Holocaust um, er kann mit seinem Bruder fliehen und wird über Umwege zum Dolmetscher für die Gestapo. Diese Position nutzt er, um als Fluchthelfer und Waffenschmuggler einen Teil der Bewohner eines Ghettos vor der Vernichtung zu retten. Seine Tätigkeit wird entdeckt, er kann aus dem Gefängnis fliehen, wird von Nonnen versteckt, konvertiert zum Katholizismus und wird zum Priester ordiniert. Auch für das NKWD arbeitet Stein eine Zeit lang. Schließlich emigriert er nach Israel.

Sein Lebensweg bleibt jedoch auch dort mehr als ungewöhnlich. In Israel gründet er eine Glaubensgemeinschaft nach dem Vorbild der urchristlichen Kirche des Jakobus. Im ersten Jahrhundert nach Christus, bevor das Christentum sich vom Judentum abspaltete, beteten "Juden" und "Christen" gemeinsam zu einem Gott. Eine solche Gemeinschaft will Stein wieder aufleben lassen. In Jesus sieht Daniel Stein seinen "Lehrer", einen Juden mit der christlichen Botschaft. Gemeinsam mit seiner Assistentin Hilda aus Deutschland baut er eine Kirche, ein Altersheim und ein Gemeindezentrum. Ihre Gemeinde besteht aus Menschen vieler Muttersprachen – nach einigen Jahren wird der Gottesdienst ausschließlich auf Hebräisch gehalten.

Nicht nur mit der offiziellen Kirche legt Stein sich an – so zweifelt er einige Dogmen der Kirche wie etwa die Jungfrauengeburt an. Gegen den israelischen Staat zieht er sogar vor Gericht: Er besteht auf einer Einbürgerung aufgrund seines Judentums, nach dem "Heimkehrergesetz". Diese wird ihm jedoch verweigert – die Staatsbürgerschaft bekommt er als gewöhnlicher Einwanderer. Das Gericht entscheidet, wer einer anderen Religion angehöre, könne kein Jude sein. Damit spielt er eine wichtige Rolle in der innerisraelischen Diskussion um die Definition von Judentum.

Wüsste man nicht, dass der Roman auf einer wahren Geschichte basiert, dann hielte man die Geschichte für vollkommen absurd und unrealistisch. Ein Mann soll drei Mal zum Tode verurteilt worden und dennoch entkommen sein? Zu seinen FreundInnen und BeschützerInnen soll er SS-Majore, Nonnen und den Papst persönlich zählen? Das scheint unglaublich – und doch beruht "Daniel Stein" auf einer wahren Begebenheit, auf dem Leben von Daniel Rufeisen, den die Autorin persönlich gekannt hat.

Steins / Rufeisens Geschichte erzählt Ulitzkaja anhand von unzähligen Dokumenten, erfundenen und echten. Von der Kriegszeit bis ins Jahr 2006 ziehen sich die Briefe, Tagebucheinträge, Aktenauszüge und Gesprächsnotizen, die den Roman bilden. Es sind sehr unterschiedliche Perspektiven, aus denen das Geschehen dargestellt wird. Eine Überlebende des Ghettos blickt auf ihre Kindheit zurück, die Assistentin Daniel Steins schreibt an ihre Mutter und in ihr Tagebuch, Daniel Stein hält Vorträge vor Freiburger SchülerInnen, und auch ihre eigenen Briefe an eine Freundin schließt die Autorin ein. Damit ist der Roman keine reine Hommage an den außergewöhnlichen Menschen Daniel Rufeisen. Er ist eine Darstellung der Ereignisse des 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und Zerstörungen, mit den Auswirkungen des Holocaust bis in die Folgegenerationen. Zugleich zeigt er auch die "Gerechten": Menschen, die sich gegen Mord und Hass auflehnen.

Ulitzkaja ist eine hochbegabte und engagierte Erzählerin. Ihre Figuren erstehen lebendig vor dem inneren Auge der LeserInnen, wozu sicherlich ihre eigenen Kommentare beitragen, ihre Erklärungen zu der eigenen Meinung, dem Wunsch, eine Figur auf eine bestimmte Weise zu erschaffen. Die Konflikte zwischen den Gestalten, die Wut extremistischer Juden und Jüdinnen wie ChristInnen auf Daniel Stein, Generationskonflikte wie Annäherungen unter Familienmitgliedern gestaltet sie so mitreißend wie die Beschreibung verschiedener Landschaften. Ihre unfassbar breite Materialsammlung vermittelt viele Details aus der Religions- und Weltgeschichte.

AVIVA-Tipp: "Daniel Stein" ist eins der großen Bücher des Jahres, zugleich spannend zu lesen und anspruchsvoll. Nur die Titelfigur gerät der Autorin etwas zu heldenhaft. Ulitzkajas Daniel Stein ist eine liebenswerte, bewundernswürdige, ja beinahe übermenschliche Person, fast eine Heiligengestalt. Entschuldigend wirkt vielleicht die Tatsache, dass auch andere ZeitzeugInnen den gleichen Ton anschlagen, wenn sie über den historischen Daniel Rufeisen sprechen, siehe www.lomdim.de, http://www.freiburger-rundbrief.de, http://www.jewishworldreview.com.

Zur Autorin: Ljudmila Ulitzkaja wurde 1943 geboren und wuchs in Moskau auf. Sie studierte Biologie und arbeitete ab 1967 als Genetikerin am Akademie-Institut in Moskau. Wegen der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdát-Literatur wurde sie entlassen. Zwei Jahre verbrachte sie am "Jüdischen Kammermusiktheater", bevor sie sich als freischaffende Autorin und Publizistin etablieren konnte. 1983 wurde ihr erster Erzählungsband im Staatlichen Kinderbuchverlag veröffentlicht. 1992 wurde Ljudmila Ulitzkaja mit der Veröffentlichung von "Sonetschka" als Prosaautorin entdeckt, im selben Jahr erschien auch ihre erste Erzählung in Deutschland. Ljudmila Ulitzkajas Bücher sind bereits in 17 Sprachen übersetzt worden. Sie lebt und arbeitet in Moskau.
Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. 1996 erhielt sie für ihre Erzählung "Sonetschka" den Prix Médicis. Für "Daniel Stein" erhielt sie den Alexandr-Men-Preis und wurde auf die Shortlist für den Man Booker International Prize 2009 gewählt.

Ljudmila Ulitzkaja
Daniel Stein

Hanser Verlag, erschienen am 04.02.2009
Ãœbersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
496 Seiten, Fester Einband
ISBN-13: 978-3-446-23279-2
24,90 Euro


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Beitrag vom 24.06.2009

Claire Horst