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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 19.11.2009


Seyran Ates - Der Islam braucht eine sexuelle Revolution
Britta Leudolph

Die sexuelle Selbstbestimmung ist für viele muslimische Frauen eine Utopie, deren Verwirklichung sie in Lebensgefahr bringen kann. Seyran Ates erklärt in ihrer Streitschrift, dass sich die...




...Unterdrückung direkt aus dem Koran ableiten lässt und dass dieser deshalb dringend reformiert werden muss.

"Als ich fünfzehn war, verhinderte mein ältester Bruder, dass ich eine Hose bekam, die hinten einen Reißverschluss hatte (der letzte Schrei damals). Mir war sofort klar, dass es daran lag, dass mein Po dadurch zu sehr betont wurde. Aber niemand sprach das aus. Mein Bruder sagte nein, und meine Eltern gehorchten ihm. Sie fanden es gut, dass er auf die Ehre und Moral seiner Schwester achtete. Die deutschen Freundinnen meines Bruders trugen solche Hosen. Das war für ihn natürlich etwas anderes. Ich erinnere mich noch heute, wie sich damals die Scham einstellte, die mich lange begleiten sollte. Die Scham darüber, ein Mädchen zu sein."

Mit dieser - vergleichsweise harmlosen - Erzählung aus ihrer eigenen Jugend beginnt Seyran Ates ihre Streitschrift für eine sexuelle Revolution im Islam. An erster Stelle steht die Analyse, welchen Stellenwert die Sexualität im Islam inne hat: während sie einerseits als menschliches Bedürfnis wie Essen und Trinken anerkannt wird, erfährt sie auf der anderen Seite eine entscheidende Einschränkung: Sexualität, in ihrer "[...] reinen, sauberen Form [...]" gibt es nur in der Ehe. Dies gilt gleichermaßen für Frau und Mann, wobei dem Mann mehrere Frauen erlaubt sind, ganz nach dem Vorbild des Propheten Mohammed.

Seyran Ates macht sehr deutlich, dass die Frau im Islam, wie immer der Koran und die Hadithen interpretiert werden, eine untergeordnete Stellung einnimmt, was sie mit eindeutigen Zitaten nachzuweisen weiß. Die Konsequenzen aus dieser Weltanschauung sind fatal: Frauen gelten als minderwertig, zugleich herrscht ein Jungfernkult, der jedoch ausschließlich um die weibliche Jungfernschaft betrieben wird. Die Autorin verweist hier immer wieder auf die vorherrschende Doppelmoral: natürlich haben muslimische Mädchen und Jungen sexuelles Interesse, während jedoch den Jungen dieses Interesse zugestanden wird, sie oft gar ermutigt werden, sich auszuprobieren, kann außerehelicher Sex für eine Muslima das Todesurteil bedeuten.

Frau Ates fordert die sexuelle Selbstbestimmung für MuslimInnen. Dabei greift sie auf die StudentInnenbewegung der 1960er in den westlichen Demokratien als Vorbild zurück. Doch will Frau Ates hier nicht zu viel? Einerseits haben die 68er nicht die katholische Kirche revolutioniert, sondern Veränderungen in demokratischen Gesellschaften angestoßen, die ihrerseits einen weiten Vorlauf hatten. Heute ist die Türkei der einzige muslimische Staat, der von Freedom House als "[...] zum Teil freie Demokratie [...]" klassifiziert wird, alle anderen muslimischen Staaten gelten als unfrei. Deshalb muss die Autorin in ihren Ausführungen, woher die sexuelle Revolution des Islam kommen möge, auch vage bleiben. Andererseits kann die Autorin nicht weniger fordern: Dort, wo Frauen die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wird, herrscht Stagnation, eine echte Demokratie lässt sich nicht mit nur einer Hälfte der Bevölkerung verwirklichen: "Eine Religionsgemeinschaft, die die Gleichberechtigung der Geschlechter ablehnt und das durch ein Symbol wie das Kopftuch für alle gut sichtbar demonstriert, ist demokratiefeindlich."

Zur Autorin: Seyran Ates wurde am 20. April 1963 in Istanbul geboren. Im Alter von sechs Jahren folgte sie ihren Eltern nach Berlin. Hier legte sie ihr Abitur ab und studierte anschließend Jura. Frau Ates kämpft für die Rechte der Frauen und befasst sich als Rechtsanwältin hauptsächlich mit Strafrecht und Familienrecht, zudem engagiert sie sich in der deutschen AusländerInnenpolitik.
Bereits 1984 verübte ein Mitglied der "Grauen Wölfe" ein Attentat auf sie, das sie nur knapp und schwer verletzt überlebte. Die Frau die sich damals zusammen mit Seyran Ates im Frauenladen TIO aufhielt und durch sie beraten wurde, starb. 2006 gab sie wegen gewalttätiger Angriffe und Bedrohungen durch Prozessgegner vorübergehend ihre Anwaltszulassung zurück. Nach der Veröffentlichung von "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" erhielt Frau Ates erneut Morddrohungen. Wegen der unmittelbaren Gefahr für ihre Familie und sich, gab Seyran Ates im Oktober 2009 über den Ullstein Verlag bekannt, sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Weitere Infos und Kontakt:
Beispiel: www.seyranates.de

AVIVA-Tipp: Seyran Ates´ Analyse der muslimischen Sexualmoral ist scharfsinnig, und, wie es scheint, von einer ordentlichen Portion Wut getragen. An einigen Stellen schlägt sie mit ihren Formulierungen über die Stränge, was ihrer Kernaussage jedoch nicht abträglich ist: Der Islam macht beiderlei Geschlechter zu Unmündigen: Die Frauen, weil er sie als dem Mann als Unterworfene darstellt, die Männer, indem er ihnen unterstellt, ihre Triebe nicht im Zaum halten zu können. Diese Sexualisierung hat in der Realität verheerende Folgen.
Die Streitschrift enthält einen eindeutigen Appell an die westliche Gesellschaft: Die Menschenrechte dürfen nicht der vermeintlichen Toleranz gegenüber religiösen Praktiken geopfert werden: universelle Werte wie Freiheit, Gleichheit oder das Selbstbestimmungsrecht müssen für alle gelten und eingefordert werden. Frau Ates´ Thesen sind mutig, provokant und bitter nötig.

Der Islam braucht eine sexuelle Revolution - Eine Streitschrift
Seyran Ates
Ullstein Verlag, erschienen im Oktober 2009
Gebunden, 219 Seiten
ISBN 978-3-550-08758-5
19,90 Euro

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Beitrag vom 19.11.2009

Britta Leudolph