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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 07.06.2010


Regina Nössler - Kleiner toter Vogel
Tatjana Zilg

Die Berliner Autorin beschäftigte sich schon in ihren früheren Werken intensiv mit dem Thema Angst. In ihrem Thriller, der in einem schwäbischen Provinzdorf mit dunklen Abgründen spielt,...




... schildert sie eindringlich, wie eine Freiberuflerin aus der Großstadt in einen Ereignisstrudel gerät, der sie dem Gespenst der Angst fast schutzlos aussetzt.

Johanna Fink fühlt sich in allen Poren fremd, als sie das Haus ihrer gerade verstorbenen Tante Helene betritt. Von Berlin ist sie überstürzt mit dem Zug hergefahren, um den Hausstand aufzulösen und alle Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Gekannt hat sie ihre Tante kaum. Ihre Mutter hatte zur Schwester ein distanziertes Verhältnis und redete verächtlich über deren Lebensstil. Angeblich hatte sie ganz allein gelebt und einen tristen Alltag. Die Antipathie geht soweit, dass Johanna die Situation nach dem Sterbefall alleine regeln soll.

Gefühlschaos, Liebesverlust und mörderische Zustände in ländlicher Umgebung

Die Anfang-40jährige fühlt sich überfordert, aber wie sooft gelang es ihr nicht, die Wünsche der Mutter abzuwehren, obwohl diese auch über Johannas Leben mehr und mehr abfällige Bemerkungen macht. Johannas Widerstandsgeist ist ohnehin geschwächt, da bei ihr gerade selbst nichts rund läuft: Die Beziehung zu ihrer Freundin Ines, einer erfolgreichen Architektin, steht nach einem heftigen Streit auf der Kippe und die Aufträge für ihre Tätigkeit als freiberufliche Wissenschaftslektorin bleiben aus. So stimmt es in gewisser Weise, was ihre Mutter sagt: Zeit hat sie genug, um in dem kleinen Dorf in Schwaben, wo ihre Tante ein nettes Häuschen mit Garten besaß, die Dinge zu klären. Dennoch weiß sie nicht, als sie die Haustüre geöffnet und sich in den gemütlich und praktisch eingerichteten Räumen umgeschaut hat, wo sie beginnen soll. Stattdessen macht sich ein ausgesprochen unbehagliches Gefühl in ihr breit und sie erschaudert bei dem Gedanken an die Endgültigkeit des Todes, der ihre Tante ereilte. Dies wird verstärkt durch einige kleine unerklärliche Beobachtungen wie die eines toten Finks, der im Garten drapiert liegt.

Kaum wiegt sich die Leserin in Sicherheit, die Bedrohung sei nur die innere Wahrnehmung von Johanna, das Dorfgeschehen selbst aber harmlos, da liegt plötzlich eine Leiche auf der Terrasse des Hauses. Kurz zuvor hatte Johanna die Ermordete kennen gelernt: Es war die Putzfrau der Tante.

Das Geschehen transformiert zum sozio-delikaten Suspense-Krimi

Regina Nössler gelingt es, in einer Jonglage aus Krimi-Elementen, Dorf-Ethno-Satire und Psycho-Sezierung einen packenden Roman zu gestalten, dessen Hauptgewicht auf die inneren Prozesse der zentralen Protagonistin gerichtet ist und dennoch das Umfeld bizarr und lebensnah zugleich einbezieht, so dass die Spannung hochschlägt wie bei der Verfolgung einer spektakulären Mordserie eines Hitchcock-Films. Denn es bleibt nicht bei zwei Toten, es folgen weitere, und alle standen in einem direkten Zusammenhang zu Johanna. Als Fremde wird sie für das ländliche Ermittler-Duo der Polizei zur Verdächtigen, während ihre Angst, ihr könne selbst etwas passieren, nicht ernst genommen wird.

Eine Verbündete findet sie in Christiane Holzapfel, die auf den ersten Blick ein Landfamilienidyll lebt: Ein großes Haus, ein perfekter Ehemann - Lehrer - und zwei Kinder. Dass auch hier die Fassade gewaltig bröckelt, wird schnell klar, noch vor dem nächsten Mord sind die psychodynamischen Abgründe offengelegt. Viel Zeit, um den Schock zu spüren, bleibt Johanna nicht, denn über ein paar telefonische Ecken erfährt sie von dem Tod einer Bekannten in Berlin, die für sie gerade zu mehr als einer Bekannten wurde.

AVIVA-Tipp: Dieser Roman ist mehr als ein nervenkitzelnder Psychothriller. Zugleich ist er ein lesbischer Beziehungsroman, wenn Johanna ihre Beziehung und die unterschiedlichen Positionen der beiden Partnerinnen im Rückblick profunde reflektiert und doch nicht von ihrer Zuneigung loslassen kann. Im weiteren Verlauf des Plots wird "Kleiner toter Vogel" zu einem Schelminnenstreich, gewürzt mit viel subtilem, schwarzem Humor, wenn die Morde dem kleinbürgerlichen Idyll die strukturierte Fassade entreißen. Als I-Tüpfelchen gibt es ein überaus überraschendes Ende, das nach all den Lynch´esken Gräulichkeiten mit einem positiven Gefühl aus dem Lesesog entlässt.

Zur Autorin:
Regina Nössler
wurde 1964 in Altenhundern geboren und studierte später Germanistik und Film- und Fernsehwissenschaften in Bochum. Heute lebt sie als freie Autorin und Lektorin in Berlin und schreibt Romane und Erzählungen. Zuletzt erschien der Beziehungsthriller "Die Kerzenschein-Phobie". "Kleiner toter Vogel" ist ihre elfte Buchveröffentlichung.

Regina Nössler
Kleiner toter Vogel

konkursbuch Verlag, erschienen März 2010
Klappenbroschur, 416 Seiten
10,90 Euro
ISBN 978-3-88769-751-8

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Beitrag vom 07.06.2010

AVIVA-Redaktion