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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 10.10.2011


Joyce Maynard - Der Duft des Sommers
Tatjana Zilg

Der dreizehnjährige Henry wird zum Zeugen, wie für wenige Tage ein außergewöhnliches Glück in das Haus einzieht, in dem er mit seiner alleinerziehenden, seelisch verletzten Mutter lebt. Beim ...




... Großeinkauf im Supermarkt begegnen sie einem geheimnisvollen, körperlich leicht verwundeten Mann.

Von seinem selbstbewussten, zugleich scheuen Charme sofort eingenommen, machen sie ihm das Angebot, ihn bei sich zu Hause zu versorgen. Dort offenbart er ihnen, dass er ein entflohener Häftling ist, der wegen eines Schwerverbrechens zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde.

Von Anfang an spricht aus jeder Zeile, dass es sich hier nicht um einen Psychothriller handeln wird, sondern dass sich eine sensible, emotional hoch aufgeladene Beziehungsgeschichte anbahnt.
Das Verhalten des Mannes namens Frank gegenüber Henry und seiner Mutter Adele zeichnet sich durch eine ehrliche Höflichkeit und einem behutsamen Umgang aus. Aber er hat ein klares Ziel vor den Augen: Nicht ins Gefängnis zurückkehren und die Situation dafür nutzen, seine Flucht fortzusetzen.

Aufruhr im zurückgezogenen Alltagsleben

Aus einem noch kindlich geprägten Blick beobachtet Henry das Umeinander-Kreisen der beiden in der Seele verwandt erscheinenden Erwachsenen und die Reaktionen seiner Mutter auf Franks Offenbarungen über seine Herkunft. Die Autorin versetzt die Leserin unmittelbar in die innere Welt von Henry, ihrem Ich-Erzähler. In einer Mischung aus spontanem Verständnis und vorurteilsfreier Unvoreingenommenheit lässt der Junge sich von der Begeisterung seiner Mutter für Frank anstecken und freut sich über die unerwartete Gesellschaft. Adele hat sich nach der Trennung von Henrys Vater von der Außenwelt zurückgezogen und ihren Sohn zu ihrem engsten Vertrauten gemacht. Für den Teenager wurde das zunehmend zur Überforderung. Längst wünscht er sich innerlich mehr Distanz zu seiner Mutter, die ihm oft ohne Rücksicht auf seine kindliche Bedürfnisse über die schmerzlichen Ereignisse ihres Lebens erzählt.

Die Autorin fällt dabei nie in einseitige psychologische Erklärungsmuster, welches eine der vielen Qualitäten des Romans ist. Es gelingt ihr, die komplexen und teils widersprüchlichen Gedanken und Gefühle, die Henry in seiner Lebenssituation empfindet, eindringlich und anschaulich wiederzugeben.

Die ersten Tage mit Frank sind für alle voller Lichtblicke, da der Flüchtling seine neugewonnene Freiheit intensiv erlebt und seine beiden GastgeberInnen daran teilhaben lässt. So werden die kleinen Dinge des Alltags zum sinnlichen Fest: Das Backen eines Pfirsich-Pies, ein langer Gesprächsabend in der Küche, ein Baseball-Training.

Zunehmendes Misstrauen zerstört das neugefundene Glück

Als Frank und Adele ihrer starken Anziehung füreinander nachgeben und zum Liebespaar werden, gerät der Teenager in einen inneren Widerstreit. Zunächst spürte er Erleichterung, nicht mehr dafür sorgen zu müssen, dass es seiner Mutter gut geht. Doch dann meldet sich die Angst, Adele an Frank zu verlieren. Obwohl es dafür keinen Anlass gibt, ist er sich sicher, dass sie nicht vorhaben, ihn auf die geplante Flucht nach Kanada mitzunehmen. Die Handlung fließt in leisen, perfekt komponierten Wendepunkten dahin, bis die ambivalente Gedankenwelt des Teenagers für einen dramatischen Einbruch sorgt.

Zur Autorin: Joyce Maynard war Reporterin bei der New York Times und arbeitet heute als freie Journalistin für verschiedene große Magazine. Ihre Kolumnen und Artikel erscheinen in zahlreichen US-Zeitschriften. Mit ihren Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit dem Schriftsteller J.D. Salinger schrieb sie einen internationalen Bestseller "At home in the world". Die Autorin ist Mutter dreier erwachsener Kinder und lebt in Kalifornien und Lake Atitlan, Guatemala. (Quelle: Verlagsinfo)

Weitere Infos unter: www.joycemaynard.com

AVIVA-Tipp: Der Roman fordert dazu auf, genauer hinzuschauen, wenn es um die großen Themen von Schuld und Verantwortung geht. Nach der Einführung von Frank als scheinbaren Schwerverbrecher werden die damit verbundenen Klischeevorstellungen Stück für Stück dekonstruiert. Das zeigt auch, dass bei solch schwierigen Konstellationen manches anders sein kann, als es auf dem ersten Blick erscheint.

Joyce Maynard
Der Duft des Sommers

Originaltitel: Labor Day
Aus dem Amerikanischen von Sibylle Schmidt
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten
Goldmann Verlag, erschienen Juni 2011
ISBN: 978-3-442-31216-0
17,99 Euro




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Beitrag vom 10.10.2011

AVIVA-Redaktion