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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 15.03.2006


Ich bin in Sehnsucht eingehüllt
Sarah Ross

In einer Jubiläumsausgabe sind nun erneut die Gedichte der jung verstorbenen Lyrikerin Selma Meerbaum-Eisinger erschienen. Der Band enthält auch die Geschichte der Entdeckung ihrer Werke.




Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, ich sehne mich nach dir.
Mein heißes Sehnsuchtslied erfüllt die Welt und mich
mit dir.
(Tränenhalsband)

Selma Meerbaum-Eisinger, eine entfernte Cousine Paul Celans, wurde am 15. August 1924 in Czernowitz in der Bukowina geboren und starb am 16. Dezember 1942 in einem Konzentrationslager. Sie war ein lebensfrohes jüdisches Mädchen, das träumte und bereits mit 15 Jahren anfing Gedichte zu schreiben. Vor allem verfasste sie Liebesgedichte über eine Liebe, die mehr Traum als Wirklichkeit war, und die sie ihrem Freund Lejser Fischman widmete. Er selbst kam später auf der Flucht nach Palästina ums Leben. Lange Zeit galten diese Werke, die heute ein Stück Weltliteratur sind, als verschollen. Bis der Journalist und Exilforscher Jürgen Serke sie vor 26 Jahren wieder entdeckte und in einem Aufsehen erregenden Buch unter dem Titel "Ich bin in Sehnsucht eingehüllt" herausbrachte: 57 Gedichte einer damals noch völlig unbekannten Autorin, über die Hilde Domin, sel. A., einst schrieb: "Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön und so bedroht."

Anlässlich der neu eingespielten CD des World Qintet sind nun Selma Meerbaum-Eisingers Gedichte erneut in einer Jubiläumsausgabe im Hoffmann & Campe Verlag erschienen. Neben den Gedichten enthält das Buch auch die, von Jürgen Serke nachgezeichnete, ausführliche und abenteuerliche Geschichte der Entdeckung von Selmas Lyrik, sowie ihren Lebenslauf in Bildern.

Die Dichterin begann schon früh sich für die großen Autoren Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Klabund, Paul Verlaine und Rabindranath Tagore zu interessieren, die nicht zuletzt auch ihre eigenen Werke beeinflussten, die sie in der Zeit zwischen 1939 und 1942 verfasste. Ihre außergewöhnliche Lyrik, die bis heute ihre Anziehungskraft nicht verloren hat, hat sie noch vor ihrem Tod selbst zu einem handschriftlich verfassten Album unter dem Titel "Blütenlese" zusammengefasst. Dieser Sammelband konnte nur unter Lebensgefahr aus dem Ghetto der Stadt, in dem die Familie Meerbaum seit 1941 lebte, geschmuggelt werden, bevor sie selbst in das deutsche Arbeitslager Michailowska deportiert wurde. Auf riskante Weise geriet das Album noch während des Krieges durch Fischman in die Hände von Selmas Freundin Renée Abramovici, durch die es nach Israel gelangte. Hier wurden die Gedichte zwar erstmals als Privatdruck veröffentlicht, aber dennoch blieben sie bis zur Veröffentlichung von Jürgen Serke nahezu unbekannt.

Dass Selmas erste Liebe nicht nur diesem jungen Mann galt, sondern vor allem auch der deutschen Sprache, den Blumen und der Natur im Allgemeinen, bezeugen ihre überlieferten Verse. Bei ihren Gedichten handelt es sich um impressionistische Liebes- und Naturlyrik, die durchgehend von einer melancholischen Grundstimmung geprägt sind. Fast könnte man annehmen, dass diese anmutigen, romantischen und zugleich so sehr tiefgründigen Reime aus der Feder eines erwachsenen Dichters stammen. Doch Selma Meerbaum-Eisinger hat bereits als junges Mädchen eine Dichtkunst geschaffen, die von unvergleichlicher Stilsicherheit, emotionaler Tiefe, Reife und Ausdruckskraft zeugt, wie kaum eine andere.

Ihre Liebe zur Natur zeigt sich auch gleich in der Aufteilung der Gedichte – in "Der Blütenlese erster Teil" und "Der Blütenlese zweiter Teil". Innerhalb dieser zwei übergeordneten Kategorien ordnete sie ihre Lyrik verschiedenen Blumenarten zu, wie Apfelblüten, dunkler Flieder, fremdländische Orchideen, weiße Chrysanthemen oder wilder Mohn. Doch handeln ihre Gedichte nicht nur von der Schönheit der Natur, oder vom Sommer, den sie so sehr liebte. Beim Lesen wird einem schnell klar, dass sie sich ihrer Situation voll und ganz bewusst war. So wusste sie beispielsweise, dass die Stadt, in der ihre Träume Wirklichkeit hätten werden können "nun ganz fern ist, wie ein Bild aus einem alten Märchen."
Beinahe zu erwachsen für ihr Alter schildert sie dann auch in ihrem Gedicht "Rote Nelken", dass ihr die Sehnsucht und der Wunsch nach Lachen und Glücklichsein nicht mehr zustünde:
"Sonne klingt. Das Wasser klingt, es klingt die Nacht – so hör, ich hab’ für Dich gelacht!"

AVIVA-Tipp: Mit der Jubiläumsausgabe "Ich bin in Sehnsucht eingehüllt" liegt uns dank des Herausgebers Jürgen Serke heute, 64 Jahre nach dem Tod der jüdischen Lyrikerin Selma Meerbaum-Eisinger, eines der wertvollsten und größten literarischen Erbe der ausgelöschten deutsch-jüdischen Kultur der Bukowina vor. Mit ihren Worten zeichnet sie wunderbare Bilder von der Natur, sie beschreibt ihre – nur noch in den Träumen existierende – Liebe zu Lejser Fischman und zieht uns gleichzeitig in die Realität des Konzentrationslagers, in der ihre Sehnsucht nach dem Leben und dem Glücklichsein nur mehr eine aussichtslose Hoffnung war.

Zur Autorin:
Selma Meerbaum-Eisinger
war eine Jüdin. Sie wurde 1924 in Czernowitz geboren. Mit 15 begann sie eigene Gedichte zu schreiben und aus dem Französischen, Rumänischen und Jiddischen zu übersetzen. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das 1940 von Rumänien an die Sowjetunion abgetretene Czernowitz im Juli 1941wurde die Familie gezwungen, im Ghetto der Stadt zu leben. Noch bevor sie ins Arbeitslager deportiert wurde, gelangt es ihr, ihren Gedichtband "Blütenlese" einer Freundin zukommen zu lassen. Selma starb am 16. Dezember 1942 im deutschen Arbeitslager Michailowka an Typhus. Sie war 18 Jahre alt, wurde irgendwo verscharrt.

Zum Herausgeber:
Jürgen Serke
wurde 1938 in Landsberg/Warthe geboren. Er ist Journalist und Exilforscher und lebt und arbeitet in der Nähe von Hamburg. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören "Die verbrannten Dichter" (1978), "Böhmische Dörfer" (1987) und "Zuhause im Exil" (1998).

Begleitend zur Jubiläumsausgabe des Buches ist auch eine Audio-CD im Verlag Hoffmann und Campe erschienen. Gelesen werden die Gedichte von Iris Berben.


Selma Meerbaum-Eisinger
"Ich bin in Sehnsucht eingehüllt"

Gedichte
Mit Bildteil
Herausgegeben von Jürgen Serke
Hoffmann und Campe, November 2005
ISBN (10) 3-455-05171-5
ISBN (13) 978-3-455-05171-1
139 Seiten, gebunden
12,00 Euro90008115&artiId=3555662&nav=5081"

Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. CD
Booklet, 12 S.
Laufzeit ca. 34 Minuten.
Herausgegeben von Jürgen Serke. Vorgelesen von Iris Berben.
Hoffmann und Campe /Audios, November 2005
ISBN: 345530429X
EAN: 9783455304299
9,99 Euro90008115&artiId=3555941&nav=5230"




Literatur

Beitrag vom 15.03.2006

Sarah Ross