Ãœberleben in der Hölle - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 06.10.2006


Überleben in der Hölle
Sarah Ross

Der amerikanische Autor Daniel B. Silver rekonstruiert in seinem Buch die bestürzende und zugleich faszinierende Geschichte des Berliner Jüdischen Krankenhauses im Dritten Reich.




Als die Rote Armee im April 1945 in Berlin einmarschierte, staunte sie nicht schlecht, als sie mitten in der Hauptstadt ein Jüdisches Krankenhaus vorfand, das während des gesamten "Dritten Reiches" im Bezirk Wedding fortbestand. In dem nahezu unzerstörten Hospital versorgten nach wie vor ca. 800 jüdische ÄrztInnen, Schwestern und sonstiges Personal ihre PatientInnen, die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten entkommen konnten. Der Autor Daniel B Silver hat die Hintergründe dieses unglaublichen Kapitels der Geschichte des Hauses anhand von ZeitzeugInneninterviews und Archivmaterial rekonstruiert. In "Überleben in der Hölle" gibt er Antworten auf die Fragen, wie die Menschen in dem Krankenhaus überhaupt überleben konnten, wie sie unter den Bedingungen des Nationalsozialismus lebten und arbeiteten und welche Rolle Dr. Dr. Walter Lustig, der geheimnisvolle Direktor des Jüdischen Krankenhauses und Vertrauter der Gestapo, spielte.

Seit 1914 befindet sich das Jüdische Krankenhaus in dem Gebäudekomplex in der Iranischen Strasse 2 in Berlin Wedding - umgeben von einem großen Gartenareal. Bereits viele Jahrzehnte vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war das Krankenhaus nicht nur die Hauptanlaufstelle für die medizinische Versorgung der Berliner Juden, sondern auch das modernste Hospital in der Stadt. Heute blickt das Jüdische Krankenhaus in Berlin bereits auf eine 250-jährige Geschichte und eine lange Tradition des Forschens, Heilens und auf bedeutende medizinische Leistungen zurück. Dennoch ist es nicht die Intention des Autors, eine lückenlose Geschichte dieses Hauses zu erzählen, sondern vielmehr Antworten darauf zu geben, wie die Menschen dort den Holocaust überleben konnten.

Gemäß den Quellen, die Daniel B. Silver vorlagen, hing das Überleben der Einrichtung von mehreren Faktoren ab: Einerseits war es nicht mehr als reines Glück, andererseits trugen bürokratische Machtkämpfe unter den nationalsozialistischen Organisationen dazu bei, dass einige wenige Menschen von Deportationen und Vernichtungslagern verschont blieben. Hilfreich waren hier vor allem die Grauzonen in dem grotesken System der Nazis zur Klassifizierung der Personen: Männer und Frauen, die nur teilweise jüdischer Abstammung waren, oder solche, die in Mischehen lebten, hatten nicht im gleichen Maße mit der unerbittlichen Feindseligkeit und den menschenunwürdigen Restriktionen zu kämpfen, wie alle übrigen Juden. Besonders die Mischehen stellten für die Nazis lange Zeit ein schier unlösbares Problem dar. So wundert es nicht, dass ein Großteil des Personals, der PatientInnen und vor allem Dr. Walter Lustig in diese "halb-offizielle" Kategorie fielen, und somit durch die Lücken des Systems rutschen konnten.
Besonders Dr. Lustig, der als Kind jüdischer Eltern geboren, später getauft wurde und schließlich eine arische Frau heiratete, steht vor diesem Hintergrund - und in seiner Funktion als Direktor des Jüdischen Krankenhauses Berlin -im Mittelpunkt von Silvers Buch.

Dies, aber vor allem auch Lustigs enge Verbindungen zu Adolf Eichmann, waren Gründe dafür, warum das Krankenhaus niemals geschlossen wurde. Obwohl Dr. Lustig von eher zweifelhaftem Charakter gewesen zu sein schien, ist es ihm gelungen, die Gestapo auf Abstand zu halten und untere anderem jüdische Gefangene durch die Einweisung ins Krankenhaus vor dem Todeslager zu bewahren. Gerade Letzteres bleibt nach wie vor fragwürdig: War es wirklich sein oberstes Ziel, deutsche Juden vor dem Tod zu bewahren oder legte er sogar Deportationslisten für die Nazis an? Dr. Walter Lustig wurde nach der Befreiung von den Sowjets hingerichtet - angeblich, weil er mit den Nationalsozialisten kollaborierte.

AVIVA-Tipp:
War Dr. Walter Lustig, der Direktor des Jüdischen Krankenhauses Berlin, ein Betrüger und Kollaborateur oder ein Retter seines Volkes wie Oskar Schindler? Hat er das System soweit er nur konnte manipuliert, um wenigstens einige wenige Juden vor dem sicheren Tod zu bewahren, oder lieferte er die Opfer den Nazis aus? Die Komplexität seines Charakters, die im Mittelpunkt dieses aufschlussreichen Buches steht, macht es nach wie vor schwer, dies zu entscheiden. Anhand von ZeitzeugInneninterviews, der Auswertung von Archivmaterial und wissenschaftlichen Publikationen zur Geschichte des Hospitals ist es Daniela B. Silver gelungen, eine ausgewogenen und sehr spannende Analyse zu diesem unbekannten Kapitel in der Geschichte des Jüdischen Krankenhauses zu verfassen.

Zum Autor:
Daniel B. Silver
wurde 1941 in Philadelphia geboren. Nach seinem Studium der Anthropologie promovierte er 1968 an der Harvard University. Sein zusätzlich aufgenommenes Studium der Rechtswissenschaften schloss er ebenfalls 1968 ab. Silver war Partner einer internationalen Anwaltskanzlei. Daneben wirkte er jahrelang als Rechtsberater der National Security Agency (NSA) und der Central Intelligence Agency (CIA). Daniel B. Silver lebt in Chevy Chase, Maryland.


Daniel B. Silver
Überleben in der Hölle.
Das Berliner Jüdische Krankenhaus im "Dritten Reich"

Aus dem Amerikanischen von Hellmut Roemer
Verlag für Berlin-Brandenburg, 2006
ISBN (alt) 3-86650-580-9, ISBN (neu) 978-3-86650-580-3
280 S., Hardcover, 28 s/w-Abbildungen
25,00 Euro
Zur Zeit ist nur die englische Originalausgabe bestellbar
90008115&artiId=2410692"



Literatur

Beitrag vom 06.10.2006

Sarah Ross