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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 01.11.2003


Gross und Klein
Hilde Meier

Auf 111 Seiten erzählt Jacques Lederers Roman von einer Kindheit in Paris 1942 unter deutscher Besatzung, von Faschismus, anderen Grausamkeiten und trotz alledem - eine wunderschöne Geschichte




Sieben Jahre alt ist der französisch-jüdische Junge im ersten Teil des Romans "Gross und Klein" von Jacques Lederer.
Der Sohn eines Österreichers und einer Ungarin lebt schlecht im Paris von 1942. Die deutschen Faschisten haben die Stadt besetzt, den Vater abgeholt und inhaftiert, die Mutter kämpft um´s Überleben.
Mit einem riesigen Judenstern auf der Brust geht er nur ungern zur Schule - wegen Sigrand: "Sigrand machte mir eindeutig mehr Angst als Gestapo, SS und Wehrmacht zusammen. Nicht einmal entfernt reichten sie an ihn heran."

Sigrand und Sip´tit, "Groß und Klein" nennt ein Lehrer die ungleichen Jungen.
Sie sind Banknachbarn in der Schule und gelten als Freunde. Doch Sigrand, ein Koloss von einem Kind, durchtrieben, raffiniert und hinterhältig, ist einer, der sich mit Vorliebe an die Kleinen hält. Sein "Lächeln des Bösen" sieht Sip´tit fast täglich, wenn Sigrand ihn irgendwohin beordert, um ihn zu quälen, weil er Jude ist.

Die Geschichte unter deutscher Besatzung nimmt seinen Lauf.
Die Mutter wird gewarnt und ihr gelingt mit ihrem Sohn die Flucht. Sie versteckt sich bei Bauern, Sip´tit gibt sie in ein weißrussisches Kinderheim: "Zwei Jahre lang litt ich unter Hunger, eisiger Kälte und Liebesentzug, aber immerhin kam ich mit dem Leben davon." Sigrand trifft er unter makaberen Umständen wieder.

Im zweiten Teil des Romans liegt Sip´tit, inzwischen 16 und schwindsüchtig, im "Petit Berghof", einem Kurheim für (jüdische) Studenten. Der Krieg ist zu Ende, die Überlebenden kämpfen mit den Nachwirkungen.

Mit 70 Jahren schreibt Jacques Lederer, Vater dreier Kinder, Ex-Jazzpianist und langjähriger Fabrikarbeiter, ein Buch über seine eigene Kindheit und Jugend, als wäre es erst gestern geschehen. Er selbst konnte mit neun Jahren flüchten, als die französische Polizei 1942 in der Pariser Rad-Rennbahn 13.000 Juden zusammentrieb. Ein Großteil seiner Familie kam in Lagern um. Für die Figur des Sigrand stand wahrscheinlich der bekannte französische Autor Georges Perec Pate, mit welchem Jacques Lederer eine innige lebenslange Freundschaft verbunden hat. Beide mussten als Kinder jüdischer Herkunft die Deportation der Eltern hautnah miterleben.

Doch vorab eine Warnung: Man möchte die Geschichte schneller lesen, als man kann, denn sie ist genial und unterhaltsam. Doch so leicht kommt man nicht davon, denn zwischendurch holt Jacques Lederer die LeserInnen mit einem Satzkonzentrat auf den Boden der Realität zurück. "Waren Sie schon mal im Gefängnis? Nein?", um dann harmlos in seiner lebensgeschichtlichen Plauderei fortzufahren.

Gross und Klein ist keine leichte Kost, aber ein dichtes Meisterwerk der Erzählungkunst: Salopp, ironisch, wunderbar.

Aviva-Tipp: Perfekt.



Jacques Lederer
GROSS UND KLEIN

Roman
Aus dem Französischen von Juliane Gräberner-Müller
Rowohlt Verlag, Hamburg, 2003
111 Seiten, gebunden, Euro 12,90
ISBN 3-498-03917-2"



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Beitrag vom 01.11.2003

AVIVA-Redaktion