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Beitrag vom 06.03.2015
Roswitha Quadflieg - Neun Monate. Ãœber das Sterben meiner Mutter
Angelina Boczek
Neun Monate – die Zeit einer Schwangerschaft – läßt die Autorin vor uns ablaufen, es sind die Monate des Sterbens ihrer Mutter, "ein Werden und Vergehen" Es ist nicht das erste Buch der...
... Verfasserin über den Tod oder das Sterben von Familienangehörigen.
Bereits mit ihrer ersten Veröffentlichung (1985) unternahm die damals 36jährige Graphikerin und angehende Schriftstellerin den Versuch "Ein Sterben zu verstehen" (DIE ZEIT von damals, sehr angetan von dem Debüt) mit dem Buch "Der Tod meines Bruders. Die subjektive Wahrnehmung einer Familie. Ein Bericht". Nach nun 30 Jahren und zahlreichen weiteren Publikationen, erschien ein weiterer Bericht, eine Geschichte, eine Reportage, eine künstlerische Verdichtung über das Sterben, den Tod, den Abschied vom Leben der Mutter Benita.
Roswitha Quadflieg beschreibt die telefonischen Nachrichten zu den, demenzbedingten, Verhaltensweisen ihrer Mutter gleich zu Anfang als unangenehme Sache, weil sie sich von Marokko aus um die Belange der plötzlich erkrankten Mutter kümmern muss. Sie möchte ihren Urlaub nicht abbrechen und muss deshalb viel herumtelefonieren. Uns Lesern/Leserinnen wird in kurzen Passagen, die im Text verteilt sind, von der Herkunft der Mutter berichtet, die 1917 in Schweden zur Welt kommt, später zum Medizinstudium nach Berlin geht und dort 1944, den schon recht bekannten Schauspieler Will Quadflieg heiratet. Sie studiert nicht zu Ende sondern bekommt vier Kinder. Der inzwischen berühmte Schauspieler-Ehemann trennt sich in den 1960er Jahren von ihr, während sie sich um neue berufliche Pfade in der Heilpädagogik bemüht.
Es geht in diesem Bericht aber nicht um das (wahrscheinlich) ereignisreiche Leben der Benita Quadflieg sondern um das Sterben, das langsame Abbauen, (Abhauen), das Verschwinden der Mutter: "Neun Monate dauerte die Wanderschaft meiner Mutter, ehe sie losließ und ´zu Gott einging´, wie sie es nannte". Roswitha Quadflieg benutzte neben Papier und Bleistift auch eine Kamera, "um festzuhalten, was ich hörte und sah, um zu bewahren, was sie fast ununterbrochen ´sendete´ und was sie, und das war das eigentlich Kuriose, ganz offensichtlich bewahrt haben wollte."
Vielleicht ist deshalb im Buch eine gewisse Distanz zum Verhalten, zum Leiden und zu den typischen Verrücktheiten der Demenzkranken auffällig, eine beobachtende Distanz, statt Schilderungen warmen Mitgefühls, wenngleich auch solche Situationen im Text zu finden sind. Vielleicht aber lässt sich das Sterben der eigenen Mutter in einem Buchtext kaum anders als mit Abstand ver- und bearbeiten, besonders auch dann, wenn die Mutter beginnt, den Teufel ins Spiel zu bringen: "Der Satan sei da hinten aus der Ecke gekommen, da sei Dampf und Rauch gewesen, er habe sich gewunden, sei grün geworden, habe einen Buckel gemacht."
Roswithas Mutter imaginiert noch weitere Merkwürdigkeiten, die die Autorin keineswegs fassungslos schildert, im Gegenteil, nüchtern heißt es: "Meine Mutter muß umlernen. Das alte Leben, in dem sie, ob gewollt oder nicht, stets eine gewisse Rolle spielte und immer eine Respektsperson war, ist vorbei".
Schließlich kommt die Mutter ins Pflegeheim, in ein Zweibettzimmer, in dem nur die ersten Tage hart sind für Mutter und Tochter, beide gewöhnen sich an das Personal, an den Ton dort und an den Ort, an dem die Mutter sterben wird. Im Kapitel "Neunter Monat" schreibt Quadflieg: "Verbotene Gedanken: Ich kann nur weiterleben, wenn du gestorben bist. Bitte stirb, damit ich weiterleben kann. Ich bin hier nur die komische Figur. Soll ich dich allein lassen oder nicht? Man bittet, man betet und wird nicht erhört. Was weiß ich von dir, Benita Sophie? Ich bin deine Tochter, ja, aber was habe ich mit deinem Sterben zu tun? Wenn man tot ist, hört das Verwandtsein auf. Du hast mich gebeten, Sorge zu tragen, für dich zu entscheiden, wenn du eines Tages dazu nicht mehr in der Lage sein solltest. Aber ich kann es nicht, weil alles Rätsel ist und alles, was ich tue, wahrscheinlich falsch ist".
AVIVA-Tipp: Das Buch einer versierten Autorin, in einer modernen Form, die den noch immer tabuisierten Themen Tod und Sterben angemessen ist. Auch die Kürze bzw. Länge (159 Seiten) des Buches passt wunderbar und uns, den Leserinnen und Lesern wird gezeigt, dass alles, was wir tun oder nicht tun in dieser Situation - "wahrscheinlich falsch ist"...
Zur Autorin: Roswitha Quadflieg, 1949 in Zürich geboren, Tochter des Schauspielers Will Quadflieg und der Heilpädagogin Benita Quadflieg, Schwester des Schauspielers Christian Quadflieg. Kunststudium in Hamburg. Bis 2003 betrieb sie die Raamin-Presse. Sie schrieb zahlreiche Romane und Essays. Roswitha Quadflieg lebt in Berlin.
Weitere Infos und Kontakt unter: www.roswithaquadflieg.de
Roswitha Quadflieg
Neun Monate. Ãœber das Sterben meiner Mutter
Aufbau Verlag Berlin, erschienen 2014
159 Seiten. Gebunden.
17,95 Euro
ISBN 978-3-351-03414-6
www.aufbau-verlag.de
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