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Beitrag vom 04.05.2008
Berlin. Polnische Perspektiven, herausgegeben von Dorota Danielewicz-Kerski und Maciej Górny
Yvonne de Andrés
Die zweitgrößte Zuwanderungsgruppe in Berlin sind Polen. Die Wahrnehmung für das Wissen, die Präsenz und die Vielfalt der Erinnerungslandschaft zu wecken, ist das Anliegen dieses Lesebuches.
"Zwar ist es den meisten Berlinern bekannt, dass ihre Heimatstadt traditionell seit Jahrhunderten ein wichtiges Migrationsziel für Menschen aus Mittel- und Osteuropa war", schreibt Basil Kerski in dem Buch "Berlin. Polnische Perspektiven". Trotzdem sei die polnische Einwanderung ein großer, weißer Fleck im kulturellen Bewusstsein der Hauptstadtbewohner. Um diese Lücke zu füllen, haben bb>Dorota Danielewicz-Kerski und Maciej Górny im April 2008 dieses spannende Lesebuch herausgegeben.
Mit diesem weißen Fleck im Bewusstsein der angeblich so weltoffenen Metropole Berlin verhält es sich gerade so wie mit den Kenntnissen der polnischen Geschichte insgesamt. Sie ist in Deutschland hauptsächlich in der Perspektive deutscher Vertriebener präsent und in der Gewissheit, dass man für alles, was man irgendwie billiger braucht schon eine Polin oder einen Polen findet.
"Berlin. Polnische Perspektiven" ist daher ein Augenöffner und genau auch als solcher gedacht. Die Anthologie enthält Erinnerungen von Adligen, SchriftstellerInnen, Untergrundkämpfern, Gefangenen und KZ-Häftlingen, Musikern wie Artur Rubinstein oder auch BürgerInnen und StudentInnen in Schlachtensee. Manche Polen erlebten Berlin als Flüchtlinge, manche als Durchreisende, andere lebten länger in der Stadt, nicht wenige waren gegen ihren Willen hier, andere wiederum waren sogar an der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus beteiligt.
Das Buch blättert mit der Geschichte der polnischen BerlinerInnen im Grunde die in Deutschland fast vollkommen ausgeblendete Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen auf, eine Geschichte voller Missachtung, Demütigung und Verbrechen, die meist schon direkt vor der eigenen Haustüre begannen. In vier Kapiteln versuchen die HerausgeberInnen die deutsche Leserschaft für die polnische Wahrnehmung von Berlin zu gewinnen: "Unterwegs in Berlin. Polnische Berlin-Besucher", "Polnische Häftlinge, Gefangene und Zwangsarbeiter", "die Polnische Armee im Kampf um die Reichshauptstadt" und "die Erinnerungen Polnischer Berliner". Alle Kapitel werden durch ein längeres Essay eingeführt. Die unterschiedliche Sichtweisen, Perspektiven und Stimmen ergeben sich sowohl aus dem Blickwinkel als auch aus der Zeitachse.
Seit dem Wiener Kongress 1815 und der dritten Teilung Polens finden sich Spuren von Arbeitern und Adeligen in der Berliner Geschichte. Die polnische Adelige Maria Ma³gorzata z Radziwi³³ów Franziskowa Potocka (1875-1962) beschreibt in ihren Memoiren "Dennoch hinterließ das Leben im alten Haus bei allen Kindern Erinnerungen wie an einen Hafen im Paradies oder an eine Oase in Berlin.", Bei dem alten Haus handelt es sich um das Palais Radziwill in der Wilhelmstraße 77, wo sich die geistige Elite der preußischen Hauptstadt traf. 1875 erwarb Bismarck das Palais für das Deutsche Reich und es blieb bis 1945 die Adresse der Reichskanzlei.
Ganz anders die Eindrücke von Karolina Lanckoroñska, die während des Zweiten Weltkrieges im Untergrund aktiv war und später das Gefängnis in Berlin-Moabit und das KZ Ravensbrück überlebte: "Dieselbe Sprache, in der ich einst viele kulturelle Güter empfangen und aufgenommen hatte, war mir heute vergällt. Die Erlebnisse der letzten Jahre hatten sie entehrt".
Auch Ludomi³a C. Szuwalska, die während des Zweiten Weltkrieges in Berlin zur Zwangsarbeit gezwungen wurde, schreibt ähnlich: "Jeden Morgen wurden wir auf den Hof geführt. Hier fand der Menschenmarkt statt. Es kamen Vertreter von Fabriken, Gärtner und Bauern. Sie gingen langsam an unserer Reihe vorbei, betrachteten uns aufmerksam, taxierten uns wie eine Ware."
Die Soziologin und Osteuropaexpertin Johanna Schallert fasst in ihrem Beitrag "Polnische Berliner" die polnische Zuwanderung nach Berlin vom 19 Jahrhundert bis in die Gegenwart zusammen. Die Stadt war durch die Gründung von Einrichtungen für Kultur und Wissenschaft, aber auch durch die neu entstehenden Fabriken ein Magnet geworden. Zahlreiche Arbeiter und Adlige, die aus Polen oder dem polnischsprachigen Gebieten kamen, drückten Berlin ihren Stempel auf. Das Raczynski-Palais befand sich dort, wo heute der Reichstag steht. Graf Athanasius Raczynski war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Kunstmäzen und Kunstsammler.
Berlin war nach dem Ruhrgebiet das zweitgrößte Zentrum polnischer Migration, galt jedoch oft nur als Zwischenstation. "Mit dem Ende des Kaiserreichs verblassen auch die Spuren der Polen in Berlin. Vielleicht, weil sie sich langsam in die Berliner Landschaft integrieren, den Berlinern ihre Redekunst abgelauscht haben, die Vorzüge des anonymen Großstadtlebens, die Dynamik dieser Stadt und ihre Angebote schätzen lernen. Zeichen dieser Akkulturation und Integration findet man in Berliner Telefonbüchern und auf den Berliner Friedhöfen – am deutlichsten sichtbar in der Veränderung der Namensgebung". Anders verhielt sich dies bei den polnischen Juden, die Sprache und Religion pflegten und sich so von den deutschen Juden abgrenzten.
Eine Zäsur in der Entwicklung stellt das Jahr 1914 dar, in dem polnische Saisonarbeiter zum Einsatz im Ersten Weltkrieg gezwungen wurden. Erst 1918, mit der Unabhängigkeit Polens, ließen sich viele polnische BerlinerInnen in Stettin und Hirschberg nieder. Ihnen schlug in den ersten Jahren jedoch Misstrauen entgegen. Vom Schicksal der polnischen ZwangsarbeiterInnen in Berlin schreibt die Soziologin nicht. Sie waren nicht freiwillig hier, können daher also nur zu den unfreiwilligen polnischen Berlinern gerechnet werden.
Mit dem Kalten Krieg begann in Berlin erneut eine Phase der Distanz und Kontaktlosigkeit. Die intellektuelle Emigration fand sich nicht in Berlin, sondern in London und Paris ein. Erst seit den Streiks der Solidanoœæ in den achtziger Jahren war Polnisch wieder in den Berliner Straßen zu hören. Seitdem hat die Zahl der PendlerInnen und ArbeitsmigrantInnen stark zugenommen.
Das Buch ist ein wahrhaftiger Augenöffner und ein wesentlicher Beitrag zu den bislang noch nicht vollständig geschriebenen Einwanderer-Geschichten der Stadt Berlin, die sich zwar häufig lautstark zur weltoffenen Metropole erklärt, ihren vielfältigen Herkünften jedoch bislang noch nicht wirklich nachgegangen ist. Ein wunderbares Buch, das gleichzeitig beschämt.
Zu den AutorInnen:
Dorota Danielewicz-Kerski ist Radiojournalistin und Literaturwissenschaftlerin und wurde 1964 in Posen geboren. Seit 1981 lebt sie in Berlin. Sie studierte Slawistik und Ethnologie an der FU Berlin und an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. 1987 war sie in New York in der Public Relations Abteilung der UNO tätig. Wieder in Berlin folgten Tätigkeiten als Mitarbeiterin der "Jüdischen Kulturtage" sowie die Zusammenarbeit mit dem Literarischen Colloquium (LCB). Einige ihrer Projekte seien hier erwähnt: "Woche der gegenwärtigen polnischen Literatur", "Literatur der Sinti und Roma", "Der Holocaust in der Literatur", "Verlagsmetropolen Warschau – Berlin". Dorota Danielewicz-Kerski ist bekannt als Redakteurin beim rbb – Radio Multikulti und auch beim rbb Kulturradio oder auch als Autorin in Zeitungen und Zeitschriften. 1998 veröffentlichte sie "Das Unsichtbare lieben", eine Anthologie polnischer Lyrik der neunziger Jahre.
Maciej Górny ist Historiker, studierte an der Warschauer Universität, promovierte an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau und am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas. Er war Stipendiat des polnischen Kultusministeriums, der Stiftung für die polnische Wissenschaft (Fundacja na rzecz Nauki Polskiej) sowie der Hertie-Stiftung. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen die Monographie "Miêdzy Marksem a Palackým. Historiografia w komunistycznej Czechos³owacj" (Verlag Trio, Warszawa 2001) sowie zahlreiche Artikel und Rezensionen in Zeitschriften und Sammelbänden in Polen, Tschechien, Deutschland, England und Ungarn. Er ist Mitherausgeber der Reihe "Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770-1945)" (CEU Budapest 2006). Im Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften arbeitet er am Projekt "Polen und Deutschland in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert."
AVIVA-Tipp: Diese Publikation über die Geschichte der Polen in Berlin ist in seiner Form einmalig, leider liegt eine vergleichbare Sammlung an Texten über TürkInnen, GriechInnen, ItalienerInnen u.a. zu Berlin noch nicht vor. Jahrzehntelang war das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen angespannt, dies scheint sich zu verändern. Diese Anthologie betont die vielfältigen Wechselbeziehungen und greift bis in die vornationalen Zeiten zurück, als Preußen mit Russland und Österreich Polen zerstörte. Der Band setzt sich mit dem Einfluss polnischsprachiger Einwanderer der letzten 300 Jahre auseinander. Die Publikation ist Teil des großen Forschungsprojektes des Zentrums für Historische Forschung Berlin www.cbh.pan.pl, das sich interdisziplinär mit der Erforschung der deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigt. Als weiterer Höhepunkt des Projektes "My, berlinczycy!" "Wir, Berliner!" soll im Frühjahr 2009 eine große Ausstellung im Ephraim-Palais folgen. Nur eine wirklich klitzekleine Kritik an diesem Buch ist vorzubringen: Während die AutorInnen der Anthologie mit einer kurzen biografischen Erläuterung eingeführt werden, hat man dies für die AutorInnen der Einstiegsbeiträge leider vergessen.
Berlin.
Polnische Perspektiven
19.-21. Jahrhundert
Herausgegeben von Dorota Danielewicz-Kerski, Maciej Górny
Berlin Story Verlag, erschienen April 2008
gebunden - 447 Seiten
ISBN: 9783929829891
19,80 Euro