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Beitrag vom 16.09.2019
Lauren Elkin – Flâneuse. Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio, Venedig und London
Bärbel Gerdes
Fast hätte sie eine Arbeit über Prostituierte geschrieben, denn die Essayistin und Autorin Lauren Elkin fand nichts anderes über die Stadtwanderin. Emsige Recherche aber zeigte: es gibt und gab sie, die Flâneuse, die Frau, die sich die Stadt erläuft und sie sich so mit den Füßen einprägt. George Sand, Virginia Woolf, Agnès Varda und viele andere gingen ihr voraus.
Der Flâneur! Walter Benjamin natürlich in den Passagen von Paris. Baudelaire, Siegfried Kracauer in Berlin. Beim Wort Flâneur entsteht vor dem inneren Auge automatisch das Bild einer männlichen Figur mit Privilegien und Muße, mit Zeit und Geld und ohne unmittelbare Verpflichtungen. Gefestigt wurde dies, indem die Herren über die Arbeiten anderer Männer schrieben (und schreiben), womit sie einen reifizierten Kanon schreibender, spazierengehender Männer erschufen. Frauen kamen und kommen nicht vor - als wäre ein Penis eine Art Wanderstab, [… den] man zum Gehen braucht.
Eine ganz andere Geschichte schreibt Lauren Elkin. Die amerikanische Autorin, die in Paris lebt, erzählt uns von ihren eigenen Begegnungen und Begebenheiten in den Städten ihres Lebens – unter anderem New York, Venedig, Tokio, Paris – und von denen ihrer Vor-Gängerinnen. Denn entgegen der Annahme der feministischen Kunsthistorikerin Griselda Pollock, es könne keine weibliche Entsprechung zum Flâneur geben, findet Elkin durchaus Frauen, die, um mit Rebecca Solnit (Wanderlust) zu sprechen, draußen herumlaufen.
Als es Elkin während des Studiums durch einen Zufall nach Paris verschlägt, ist sie von der Stadt fasziniert. Sofort erkundet sie die Straßen zu Fuß, lässt sich treiben, macht Entdeckungen. Ihre Faszination wird zum Ausgangspunkt ihrer Recherchen. Man muss sich die Welt aus dem Rascheln von Papier erschaffen, schreibt sie.
Dabei war die Flâneuse lange Zeit eine Ausnahmeerscheinung. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts galten Frauen, die alleine auf den Straßen angetroffen wurden, als Prostituierte, bestenfalls als Dienstmädchen, die Besorgungen machten. Frauen der Oberschicht zeigten sich höchstens in offenen Kutschen oder ausnahmsweise – und natürlich in Begleitung – zu einem Gesundheitsspaziergang im Park.
Dies änderte sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, auch durch die Verbreitung großer Kaufhäuser, durch die Frauen schlendern durften. Damit einher entstanden Orte, an denen Damen in Ruhe zu Mittag essen konnten, wenn sie […] ohne Begleitung eines Gentleman zum Einkaufen in der Stadt waren.
Durch die neue Frau der 1890er Jahre, die in Geschäften arbeitete und Fahrrad fuhr, wurden Frauen zunehmend im öffentlichen Raum sichtbar.
Doch ob sie diese Orte auch in Besitz nahmen, ist eine andere Frage. Allein die Straßennamen verraten etwas anderes und sicherlich auch die Tatsache, dass es beispielsweise in Edinburgh doppelt so viele Statuen von Hunden gibt als von Frauen.
Und doch existiert(e) die Flâneuse und zwar überall dort, wo wir vorgeschriebene Wege verlassen und uns neue Gebiete erschließen.
In Paris war dies sicherlich George Sand. Unter dem Asphalt läge die Revolution, schreibt Elkin und entführt die Leserin ins Paris des 19. Jahrhunderts. Sand schildert sie als eine idealistische Schriftstellerin, die Menschen darstellte wie sie sein könnten: emanzipiert und befreit von allen einengenden Fesseln der Familie, Ehe und Religion. Sand verstand sich nicht als Feministin. Sie kämpfe für die Rechte aller, nicht nur für die der Frauen, äußerte sie sich. Dennoch erkannte sie, wie eingeengt sie war, schon allein aufgrund ihrer Kleidung. Obwohl ein Gesetz von 1800 es verbot, dass Frauen Hosen in der Öffentlichkeit trugen, schneiderte sie sich einen Mantel aus schwerem Tuch, eine dazu passende Hose und eine Weste. Die größte Freude aber machten ihr ihre Stiefel: am liebsten hätte ich darin geschlafen...Ich flog von einem Ende von Paris zum anderen.
Ganz anders Virginia Woolf. Als sie endlich mit ihrer Schwester und ihren Brüdern eine eigene Wohnung hatte, entdeckte sie das Street Haunting. Sie lief durch die Straßen, beobachtete, entwarf Szenen für ihre Romane und blickte in die Fenster fremder Häuser. In Ein Zimmer für sich allein macht sie auf die im Dunkel liegenden weiblichen Lebensläufe aufmerksam und rät: All das wirst du erkunden müssen, […] mit deiner Fackel fest in der Hand.
In Venedig begibt sich Elkin auf die Fährten der französischen Künstlerin Sophie Calle, die wiederum einem Herrn folgt, fast stalkt, und sein Leben mit der Kamera festhält. Eindrucksvoll mäandert der Text über Donna Leon zum venezianischen Überwachungssystem zu Elkins eigenen Romanplänen.
Lauren Elkin sei eine unserer scharfsinnigsten Denkerinnen, schreibt Deborah Levy und nennt sie die Susan Sontag ihrer Generation.
Es ist faszinierend zu beobachten, wieviele Frauen gegenwärtig das Genre des Essays wieder zu großer Literatur machen, sei es Deborah Levy selbst oder Rebecca Solnit. Diese feministischen Stimmen flanieren durch die gegenwärtige und vergangene Welt und stellen sie mit einem radikal weiblichen Blick dar.
Eine weibliche Flânerie, eine Flâneuserie, verändert nicht nur die Art, wie wir uns im Raum bewegen, sondern greift in die Struktur des Raums selbst ein. Wir fordern unser Recht ein, den Frieden zu stören, zu beobachten (oder nicht zu beobachten) und auf unsere Weise Raum einzunehmen (oder nicht einzunehmen) zu strukturieren (oder zu destrukturieren). resümiert Lauren Elkin – ein Aufruf, es ihr gleich zu tun.
AVIVA-Tipp: Lauren Elkin nimmt die Leserin mit auf einen Spaziergang durch die Großstädte der Welt und beweist, dass es die Flâneuse durchaus gab und gibt. Das Buch ist eine Einladung zum eigenen Erlaufen unserer Welten.
Zur Autorin: Lauren Elkin wurde in New York geboren. Erstmals zog sie 1999 nach Paris und studierte Französische Literatur an der Sorbonne. Seit 2004 lebt sie ständig dort mit Zwischenaufenthalten in London, Tokio, Venedig und Hong Kong. Die Essayistin, Autorin und Übersetzerin veröffentlichte u.a. in The New York Times, The Guardian, Le Monde, VogueLondon Review of Books und dem Times Literary Supplement. Flâneuse wurde von zahlreichen Zeitungen zum besten Buch des Jahres 2016 gewählt und war 2018 in der Endauswahl des PEN/Diamonstein-Spielvogel Award for the Art of the Essay, der jedoch an Ursula K. Le Guin ging. Sie schrieb einen Roman Floating Cities und gemeinsam mit Veronica Esposito ein Buch über den AutorInnenkreis Oulipo The End of Oulipo?: An attempt to exhaust a movement.Ihre Promotion schrieb sie über Phänomenologie und britische Schriftstellerinnen in den 1930er Jahren, insbesondere über die Werke von Virginia Woolf, Elizabeth Bowen, Jean Rhys und Rosamond Lehmann. Zurzeit arbeitet sie u.a. an ihrem zweiten Roman und ist Ehrenstipendiatin an der University of Liverpool.
Mehr Infos zur Autorin: twitter.com/laurenelkin
Zur Übersetzerin: Cornelia Röser wurde 1978 in Münster geboren, wo sie Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaft studierte. Seit 2006 lebt sie als freie Übersetzerin, Autorin und Lektorin in Berlin. Seit 2010 übersetzt sie Romane aus dem Englischen, u.a. von Amy Lloyd und Kelly Doust.
Mehr Infos zur Ãœbersetzerin: corneliaroeser.de
Lauren Elkin
Flâneuse. Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio, Venedig und London
Titel der Originalausgabe: Flâneuse - Women Walk the City in Paris, New York, Tokyo, Venice and London
Aus dem Englischen von Cornelia Röser
btb Verlag, erschienen im November 2018. 2. Aufl.
Hardcover mit Schutzumschlag, 400 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, 7 s/w Abbildungen
ISBN 978-3442757732
Euro 22,00
Mehr zum Buch: www.randomhouse.de
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Rebecca Solnit – Wanderlust
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Karin Sagner - Frauen auf eigenen Füßen. Spazieren, flanieren, wandern
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