Margaret Atwood – Aus dem Wald hinausfinden. Ein Gespräch mit Caspar Shaller - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 11.12.2019


Margaret Atwood – Aus dem Wald hinausfinden. Ein Gespräch mit Caspar Shaller
Doris Hermanns

Nachdem Margaret Atwood am 14. Oktober 2019 für "Die Zeuginnen", die Fortsetzung ihres bekanntesten Romans "Der Report der Magd", mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet wurde, liegt jetzt ein Interview in Buchform vor, in dem die Autorin zu den unterschiedlichsten Themen – von #metoo bis zur Verbindung von Menschen zur Natur – Stellung bezieht.




Der jetzt vorliegende Band, erschienen in der Kampa Salon Reihe, umfasst ein Interview, das der Journalist Caspar Shaller im Herbst 2018 in einem Café in Toronto mit Margaret Atwood führte. Für sie sind Interviews wie Walzer tanzen: "Ihre Antwort hänge davon ab, wie agil, elegant und intelligent die andere Person sei. Manche tanzen gut, andere behäbig, mache träten ihr versehentlich auf die Füße, andere mit Absicht." Einfach ist es nicht, wie Shaller schreibt, "all ihren Elipsen und assoziativen Sprüngen zu folgen". Dem Lesen des Interviews tut das jedoch keinen Abbruch. Es ist spannend Atwood durch ihr Leben und ihren Äußerungen zu den unterschiedlichsten Themen zu folgen.

Das Interview beginnt mit Fragen nach ihrem Schreiben. Atwood ist eine ungemein produktive Autorin: Sie hat achtzehn Romane (im Buch steht noch siebzehn, ihr neuester Roman "Die Zeuginnen" fiel während der Arbeit an diesem Buch noch unter strengste Geheimhaltung), zehn Bände mit Erzählungen, sieben Kinderbücher, mehrere Theaterstücke, Libretti, Sachbücher, sowie zwei Graphic Novels geschrieben. Ihr erster Gedichtband erschien 1961, ihr erster Roman 1969. Atwood räumt schnell mit der – wie sie sagt, romantischen – Vorstellung auf, dass es so etwas wie eine Routine gibt, an die sie sich hält. Ob sie nicht gestört werden möchte oder ob sie wirklich nicht gestört wird, sind zwei sehr unterschiedliche Dinge, wie sie an mehreren Beispielen aufzeigt. Sie weist darauf hin, dass es darum geht, "wer Regeln festlegen darf und erwarten kann, dass andere sie befolgen". Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob der Vater nicht in seinem Arbeitszimmer gestört werden darf oder ob die Mutter in ihrem nicht gestört werden soll.

Auch auf andere historische Unterschiede beim Schreiben von Männern und Frauen macht sie aufmerksam, denn Frauen konnten bestimmte Erfahrungen nicht machen, durften vieles nicht: "Männer konnten also viel leichter sehen, was im Leben der Frauen vor sich ging. Deshalb gibt es all diese weiblichen Hauptfiguren (…)".

Wer Bücher von Margaret Atwood gelesen hat, weiß um ihre Verbundenheit mit der Natur, vor allem der kanadischen Wildnis, in der sie aufgewachsen ist, und somit auch der Klimakatastrophe – obwohl "Umweltschutz früher noch als Außenseiterposition einer Verrückten" galt. Andere Themen, die sie zeitlebens beschäftigen, sind zum einen neue Technologien und zum anderen politischer Extremismus, während sie im Feminismus verwurzelt ist.

Es ist ihr scharfer kluger Blick, der das Interview so lesenswert macht. So geht sie zum Beispiel auf die Frage danach, worüber Frauen schreiben "dürfen" ein: "Als Mitglied einer sogenannten »Minderheit« soll man immer über Themen schreiben, die mit der Zugehörigkeit zu dieser Minderheit zusammenhängen. (…) So hält man diese »Minderheiten« in ihrer kleinen Identitäts-Box gefangen." Wobei Frauen natürlich keine Minderheit sind, sondern nur als solche behandelt werden, aber es erklärt, warum Männer sie als Konkurrentin sehen, wenn sie nicht über "Frauen-Themen" schreiben. Und individuelle Erfolge ändern die Welt nicht wirklich, denn "Wenn sie es schaffen, aus ihrer Box auszubrechen, können sie vielleicht an einer Schraube ein wenig drehen, aber die anderen steuern die Maschine trotzdem immer noch."

Dass Atwood eine große Erzählerin ist, ist natürlich bereits aus ihren Romanen deutlich geworden, aber es zeigt sich auch in diesem Interview. Ihr Blick auf die Welt, historisch und auf die Zukunft gerichtet, von Kapitalismus bis Feminismus ist beeindruckend, ist von Gesellschaft geprägt, statt wie heute so oft von Individualismus. Und bei allem schafft sie es, optimistisch zu bleiben. "Wir haben im Laufe unserer Geschichte einige sehr dunkle Taten begangen, aber unsere Dummheit ist nicht unvermeidlich." Und so endet sie mit den Worten, "dass es doch möglich ist, unser Verhalten als Gesellschaft zu ändern".

Abschließend gibt es zwar eine Übersicht über "Leben und Werk", darin sind aber keineswegs alle von ihr erschienenen Bücher enthalten (auch nicht alle ins Deutsche übersetzten), so dass ein kompletter Überblick über ihr Werk leider fehlt. Zudem gehen einige Anspielungen des Interviewers in der Übersetzung für ein deutschsprachiges Publikum leider verloren, bzw. sie hätten zumindest erwähnt werden können. So bezieht sich die Kapitel-Überschrift "Andere Welten" auf Atwoods bisher nicht übersetzten Essay-Band "In Other Worlds: SF and the Human Imagination". Auch fragt er im titelgebenden Kapitel "Aus dem Wald hinausfinden" nach "Überlebenstipps für die Wildnis" – ohne ihre Kurzgeschichten-Sammlung "Wilderness Tips" (deutscher Titel: Tipps für die Wildnis) zu erwähnen, d. h. viele Anspielungen können denen, die mit dem Werk Atwoods im Original nicht vertraut sind, nicht deutlich sein.

Was dem Buch außerdem fehlt, ist eine Angabe zur Übersetzung. Shaller wird dieses Interview nicht auf Deutsch geführt haben und so wäre es angemessen gewesen, zu erwähnen, wer das Interview übersetzt hat – auch falls er dies selber war (meine Vermutung). Das sollte aber keine davon abhalten, dieses Buch zu lesen.

AVIVA-Tipp: Ein pures Lesevergnügen! In diesem Interview gibt Atwood auf sehr lebendige und kluge Weise über vieles Auskunft, was in ihren Romanen durchschimmert und vertieft Themen auf ihre gewohnt humorvolle Art. Dringende Leseempfehlung!

Zur Autorin: Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit, veröffentlichte bisher über 40 Bücher, darunter "Der Report der Magd", das Kultbuch einer ganzen Generation, für dessen Fortsetzung "Die Zeuginnen" sie 2019 den (geteilt mit Bernardine Evaristo) Booker Prize erhielt. Daneben hat die mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin, unter anderem mit dem renommierten Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis und 2017 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, auch als Cartoonistin, Illustratorin, Librettistin, Dramatikerin und Puppenspielerin gearbeitet. Weitere Auszeichnungen (2017): Ivan Sandrof Award for Lifetime Achievement, St. Louis Literary Award, Carl Sandburg Literary Award, Peace Prize, Franz Kafka International Literary Prize, und PEN Center USA Lifetime Achievement Award. Ihr Werk ist inspiriert von Märchen, Mythen, Umwelt- und Zukunftsfragen. Margaret Atwood lebt in Toronto.
Mehr zu Margaret Atwood unter:
www.margaretatwood.ca und www.margaretatwoodlive.com
Die Biographie von Margaret Atwood auf FemBio: www.fembio.org

Zum Interviewer: Caspar Shaller, geboren 1989, ist freier Journalist und schreibt regelmäßig für Die Zeit, Das Magazin und Die Wochenzeitung – am liebsten über die Zukunft der Menschheit, sei es in politischen Kämpfen, aus wissenschaftlicher Perspektive oder als literarischer Fiktion.

Margaret Atwood
Aus dem Wald hinausfinden. Ein Gespräch mit Caspar Shaller

Kampa Verlag, erschienen November 2019
Gebunden mit Schutzumschlag. 160 Seiten
ISBN 978-3-311-14013-9
Euro 20,00
Zum Buch: kampaverlag.ch

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Margaret Atwood – Aus Neugier und Leidenschaft
War Margaret Atwood bislang im deutschsprachigen Raum vor allem für ihre Romane bekannt, so liegen jetzt erstmals auch Sachtexte von ihr in Buchform vor. Es sind Gelegenheitstexte, die ganz nebenbei auch einen Blick auf ihr Leben werfen. (2018)

Margaret Atwood – Das Herz kommt zuletzt
Es klingt nahezu idyllisch: Alle BewohnerInnen einer Stadt bekommen ein wunderbares Haus, eine angenehme Arbeit und ihnen wird ein sorgenfreies Leben garantiert – aber es handelt sich um einen Roman von Margaret Atwood. (2017)

Margaret Atwood – Hexensaat
Die mehrfach international ausgezeichnete kanadische Autorin Margaret Atwood ("Der Report der Magd", "Die Geschichte von Zeb", "Moralische Unordnung", "Das Jahr der Flut") hat in ihrer Bearbeitung des Shakespeare Stücks "Der Sturm" die Handlung von einer Insel auf eine Art gesellschaftliche Insel verlegt: ein Gefängnis. (2017)

Margaret Atwood - Die Tür
Seit Jahren ist die kanadische Schriftstellerin als Kandidatin für den Literaturnobelpreis im Gespräch. Anlässlich ihres 75. Geburtstages erscheint nun ein Gedichtband der Autorin im Berlin Verlag. (2015)

Margaret Atwood - Die Geschichte von Zeb
Nicht umsonst gilt sie als DIE Mahnerin unserer Zeit: Im letzten Band ihrer Endzeit-Trilogie beschreibt Atwood intelligent und witzig die finale Episode einer postapokalyptischen Welt, die schon heute laut an die Türen der Gegenwart klopft. (2014)

Margaret Atwood – Payback
Margaret Atwood untersucht in fünf Essays Schulden und die Schattenseite des Wohlstands. Dabei geht es ihr nicht um ökonomische Analysen, sondern um die kulturhistorischen Ursprünge des Konzeptes "Schulden" und seiner Bedeutung für die Gesellschaft. (2009)

Margaret Atwood - Das Jahr der Flut
Die bereits siebzig Jahre alte Atwood beweist mit diesem Roman wieder einmal, dass sie zu Recht als bedeutendste Autorin Kanadas gilt. Das Jahr der Flut ist nicht nur ein zivilisationskritisches Werk, sondern vor allem zeichnet es sich durch umfassendes Wissen, sensible Darstellung der ProtagonistInnen und durch Atwoods herausragende Erzählkunst aus. (2009)

Margaret Atwood - Moralische Unordnung
Kanadas berühmteste Schriftstellerin gewährt einen Einblick in ihr Leben, dazu versammelt die 69-Jährige biographisch eingefärbte, semi-fiktionale Kurzgeschichten mit loser Verbindung in einem Werk. (2008)


Literatur > Sachbuch

Beitrag vom 11.12.2019

Doris Hermanns