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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 24.05.2021


Helge-Ulrike Hyams - Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos
Helga Egetenmeier

Mit siebenundsiebzig Jahren ging Helge-Ulrike Hyams, Professorin für Erziehungswissenschaften und Mit-Herausgeberin des Katalogs zur Ausstellung "Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher", im Herbst 2019 als Freiwillige in das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. In fünfunddreißig prägnanten Kapiteln...




...beschreibt sie den Alltag der Menschen, die am Rande von Europa unter schrecklichen Lebensbedingungen auf eine bessere Zukunft hoffen.

Seit Jahren habe sie verfolgt, was sich in Moria tut, schreibt die Pädagogin Helge-Ulrike Hyams in der Einleitung. Sie hätte geahnt, "dass die Realität von Moria eine andere sein musste als die medial vermittelte." Deshalb brach sie im Herbst 2019 nach Lesbos auf, um sich selbst ein Bild zu machen. Ihre Eindrücke und Erfahrungen reflektiert sie in ihrem Buch "Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos".

Das Lager Moria auf Lesbos und die NGO "One Happy Family"

Das als Erstaufnahmezentrum konzipierte Lager Moria bot bei seiner Eröffnung im Januar 2015 für 410 Personen Platz, es wurde im gleichen Jahr auf 2.800 aufgestockt und war bei der Ankunft der Autorin mit 20.000 Menschen völlig überbelegt. "Hier kamen Menschen zusammen, die sich ohne die Existenz des Lagers niemals begegnet wären", so Hyams. Mit großer Empathie porträtiert sie in eindrücklichen Essays die drei größten Gruppierungen, die auf der Insel zusammen treffen: die Flüchtlinge, die griechischen Inselbewohner*innen und die Mitarbeiter*innen der Nichtregierungsorganisationen.

Hyams entschied sich dafür, die NGO "One Happy Family" (OHF) als Freiwillige zu unterstützen. Diese gründete sich 2017 und führt auf Lesbos ein Gemeinschaftszentrum zusammen mit geflüchteten Menschen. Das Zentrum bietet Flüchtlingen einen geschützten Raum, um "täglich ein paar Stunden lang aus der Lageröde" zu entkommen. Essen, Trinken, saubere Toiletten, sowie Freundlichkeit, Zugewandtheit und Fröhlichkeit, so der Anspruch, sollen den Geflüchteten die Möglichkeit geben, für kurze Zeit dem Lageralltag zu entkommen.

Täglich kamen rund tausend Besucher*innen in das Zentrum, so Hyams. Das Selbstverständnis von OHF war, für alle gleichermaßen da zu sein. Sie "sollten und wollten ein Lächeln für alle haben. Und dabei niemanden zurücklassen, niemanden bevorzugen." Dies schreibt die Autorin zu Beginn ihres vorletzten Kapitels "Marwa", um dann zu erzählen, dass sie diese Regel einmal brach, um privat Kontakt zu einem Mädchen aufzunehmen. In den dreiunddreißig vorherigen Kapiteln geht sie nur auf die Strukturen ein, die sie im Lageralltag wahrnahm. Sie übertitelt diese mit Begriffen, wie "Busfahrer", "Lidl" und "Singles", und lässt damit erkennen, wie sie sich um Abstand bemüht. Denn als Freiwillige einer Hilfsorganisation verbringt sie nur eine begrenzte Zeit mit den geflüchteten Menschen. Für Menschen mit traumatischen Erlebnissen vor und während der Flucht bedeutet das vor allem, dass sie mit ihren Helfer*innen keine längerfristigen unterstützenden Beziehungen aufbauen können.

"Aber die Frage, warum Moria brannte, ja, brennen musste, lässt mich nicht los."

"Unter der Hand mutierte Moria in eine geschlossene Einrichtung", sieht Hyams die Entwicklung des Flüchtlingslagers aufgrund der Corona-Pandemie. Beim ersten Lockdown durften die Menschen das Lager nur mit polizeilicher Erlaubnis verlassen, das Asylbüro wurde über Wochen geschlossen, Angst und Gerüchte verbreiteten sich. Seife wurde zwar verteilt, doch es fehlte an Wasser und Platz zum Einhalten der Abstandsregeln. Als in Griechenland die Regeln im Sommer 2020 gelockert wurden, blieb das Lager weiterhin abgeriegelt.

Für die Flüchtlinge war die Lage hoffnungslos, denn die NGOs als Ansprechpartner*innen waren wegen der Corona-Pandemie abgereist und jeglicher Widerstand könnte das Asylverfahren gefährden. "Moria war das Pulverfass, die Pandemie der Brandbeschleuniger", so Hyams, deshalb sei die Brandstiftung am 8. September 2020 nur die logische Konsequenz gewesen.

Europas Grenzen - Slum und Todesfalle für Flüchtlinge

Ähnlich wie die Rechtsmedizinerin und Forensik-Professorin Cristina Cattaneo in ihrem Buch "Namen statt Nummern" das Mittelmeer als ein anonymes Grab für Flüchtlinge beschreibt, ist für Helge-Ulrike Hyams das Lager Moria ein großer Slum für Menschen auf der Flucht. Beide Wissenschaftlerinnen zeigen mit ihren Publikationen, dass die Verantwortung für den menschenfeindlichen Umgang mit Flüchtenden an den Außengrenzen Europas in der Verantwortung der Europäischen Union liegt.

Hyams Schlusssatz "Und der Gedanke an zukünftige geschlossene Lager auf Lesbos und anderswo, die in Brüssel und Athen schon vorbereitet werden, macht Angst", und lässt für die Zukunft noch mehr Tote und in Elend lebende Menschen an Europas Grenzen befürchten. OHF verweist in seinem Blogeintrag vom Mai 2021 auf den Zusammenhang zwischen den wegen Covid geschlossenen Grenzen, den anhaltenden Push-Backs von Frontex (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache) und dem Rückgang der Flüchtlingszahlen.

Darauf, dass kaum jemand außerhalb des Lagers von den dort steigenden Corona-Fällen Notiz nimmt, macht aktuell ein "Offener Brief aus Moria 2.0: This is not Disneyland" vom 19. Mai 2021 aufmerksam. Darin warnen zwei selbstorganisierte Geflüchtetengruppen - das Moria Corona Awareness Team und Moria White Helmets - vor einem starken Anstieg der Corona-Infizierten. Sie kritisieren darin auch Mitarbeiter*innen von NGOs, die sich nicht an die Schutzmaßnahmen halten und damit die bereits sehr eingeschränkten Lebensbedingungen der Geflüchteten weiter verschlechtern.

AVIVA-Tipp: Erziehungswissenschaftlerin Helge-Ulrike Hyams hat mit "Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos" ein zutiefst warmherziges Buch über die Menschen im Flüchtlingslager Moria geschrieben. Ohne individuelle Schicksale in den Mittelpunkt zu stellen, gelingt ihr durch die detailreichen und empathischen Beschreibungen von Situationen und Strukturen ein Appell an die europäische Flüchtlingspolitik, sich ihrer menschenrechtlichen Verantwortung zu besinnen.

Zur Autorin: Helge-Ulrike Hyams, geboren 1942 in Neuruppin, war sie von 1974 bis 2005 Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen. Mit ihrem zweiten Ehemann Charles Barry Hyams baute sie das "Marburger Kindheitsmuseum" auf. Es wurde von ihnen 1979 gegründet und als private Initiative betrieben. 2007 ging es in den gemeinnützigen Verein Marburger Kindheitsmuseum e.V. über und wurde 2009 geschlossen. Für ihr Engagement erhielt sie im Jahr 2006 den Otto-Ubbelohde-Preis des Landkreises Marburg-Biedenkopf. Ihre Sammlung von deutsch-jüdischen Kinderbüchern ist als "Hyams Collection" in der öffentlichen Bibliothek des Leo Baeck College in London zu finden. Sie ist Mit-Herausgeberin des Katalogs zur Ausstellung "Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher: Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Oldenburg und dem Kindheitsmuseum Marburg", Bis-Verlag 1998. Ihr Buch "Das Alphabet der Kindheit: Von A wie Atmen bis Z wie Zaubern" erschien 2017. Die Psychoanalytikerin und Mutter von vier Kindern lebt in Marburg/Lahn und Sainte Marie du Mont (Frankreich).

Helge-Ulrike Hyams
Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos

Berenberg, März 2021
Taschenbuch, Klappenbroschur, 160 Seiten
ISBN-13: 978-3-946334-94-1
16,-- Euro
Mehr zum Buch unter: www.berenberg-verlag.de

Weitere Informationen unter:

www.ohf-lesvos.org
Webseite der Organisation "One Happy Family" (OHF). Sie betreibt auf der griechischen Insel Lesbos in der Nähe des Flüchtlingslagers ein Gemeinschaftszentrum. Auf ihrem Blog berichtet sie auch von ihren Aktivitäten nach dem Brand im Lager Moria.

www.mena-watch.com
Auf der Webseite von Mena-Watch wurde am 19. Mai 2021 ein "Offener Brief aus Moria 2.0: This is not Disneyland" veröffentlicht. Verfasst wurde er vom Moria Corona Awareness Teamund Moria White Helmets, zwei Selbstorganisationen von Geflüchteten.

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