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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 13.10.2003


Offener Brief II gegen Hartz-Gesetze
AVIVA-Redaktion

Nach ihrem ersten Offenen Brief in Sachen Arbeitsmarktreformen & Gender-Mainstreaming im Juni 03 haben diverse Frauen-Initiativen nun erneut einen Appell an die politische Spitze gerichtet.





Wie die meisten Hartz-kritischen Initiativen warnen auch die Unterzeichnerinnen des Offenen Briefes II vom 10.10.03 vor einer sozialen Schieflage und Brandmarkung von Arbeitslosen als Folge der bevorstehenden Arbeitsmarktreformen. "Hartz I - IV" erwecke den Eindruck, so die unterzeichnenden Verbände und Vereine, als sei die hohe Arbeitslosigkeit im wesentlichen auf die hohen (Lohn)-Ansprüche und die geringe Flexibilität von Arbeitslosen zurückzuführen, so dass die Arbeitslosen "mithin alle selbst schuld" seien an ihrem Schicksal. Insbesondere für die Existenzsicherung von Frauen, aber auch für deren zukünftige Partizipation an den Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktförderung hätten die anvisierten Reformen schwerwiegende Folgen:

"Für die hier unterzeichnenden Berliner Frauenorganisationen und -verbände bedeutet die Umsetzung der Gesetze zur modernen Dienstleistung an Arbeitsmarkt I - IV in der geplanten Form:

  • Verschärfung des Armutsrisikos von Teilen der Mittelschicht und langfristige Altersarmut. Vor allem Frauen mit niedrigeren Erwerbseinkünften und einem daraus resultierenden niedrigen Rentenniveau werden dauerhaft an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
  • Neue Abhängigkeiten von Partnern und damit die Gefahr: "Frauen zurück an den Herd"!"


Im folgenden nun der Offene Brief II in voller Länge:


Offener Brief II
  • des Berliner Frauenbundes 1945 e.V.,
  • der Ãœberparteilichen Fraueninitiative Berlin - Stadt der Frauen e.V.,
  • des Runden Tisches der Berliner Frauenqualifizierungs-, Beschäftigungs-, Beratungs- und Existenzgründungsprojekte,
  • des Landesverbandes Berlin der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen,
  • des Landesfrauenrates Berlin,
  • des Deutschen Staatsbürgerinnen-Verbandes e.V.,
  • des Demokratischen Frauenbundes e.V.,
  • des Landesverbandes Berlin der Liberalen Frauen,
  • der Fraktion BÃœNDNIS 90/DIE GRÃœNE im Abgeordnetenhaus von Berlin
  • der Bundesarbeitsgemeinschaft Berufliche Perspektiven für Frauen BAG e.V.,
  • des Arbeitskreises "Feministische Politik" der Berliner PDS-Fraktion,
  • des Journalistinnenbundes e.V.

Berlin, den 10.10.03

An die Berliner Mitglieder des Deutschen Bundestages
An die Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin
An den Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, Berlin
Nachrichtlich:
An den Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit


Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Senator Harald Wolf,


im Juni 2003 erhielten Sie den ersten Offenen Brief der oben genannten Berliner Frauenverbände und -organisationen, mit dem wir unsere erheblichen Besorgnisse über die Entwicklung des Frauenarbeitsmarktes und der sozialen Lage von Frauen zum Ausdruck brachten, die wir mit den Gesetzen zur modernen Dienstleistung am Arbeitsmarkt ("Hartz I und II") verbanden.

Mit der nachfolgenden Stellungnahme machen wir Sie aufmerksam auf die mit Sicherheit zu erwartenden Folgen, die sich aus dem dritten und vierten Gesetz ("Hartz-III und IV") und der damit zusammenhängenden Novellierung der Sozialgesetzgebung, insbesondere für die Existenzsicherung von Frauen ergeben werden, aber auch für die zukünftige Partizipation der Frauen an den Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktförderung (wie z.B. die Qualifizierung).

Die Vorschläge zur Arbeitsmarktreform (Hartz I - IV) erwecken den Eindruck, als sei die hohe Arbeitslosigkeit im wesentlichen zurückzuführen auf die hohen (Lohn)-Ansprüche und die geringe Flexibilität von Arbeitslosen, dass die Arbeitslosen mithin alle selbst schuld seien an ihrem Schicksal. Dem wird entschieden widersprochen. Nicht die Arbeitslosen sind schuld an ihrer Arbeitslosigkeit, sondern die Tatsache, dass es nicht genügend existenzsichernde Beschäftigungsangebote gibt und vor allem ältere Arbeitnehmer/innen aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert werden.

Das Zusammenwirken der o.g. "Hartz-Gesetze" mit den geplanten Veränderungen in der Sozialgesetzgebung, wird - bei gleichzeitig geplanten Einsparungen/bzw. Gebührenerhöhungen der Länder und der Kommunen (Beispiel: erhöhte Gebühren für Kindertagsstätten, für den Besuch von öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbädern usw.) - zu einer erheblichen sozialen Schieflage führen. Zwar werden die Bezieher/innen von Niedrigsteinkommen und Sozialhilfe-Empfänger/innen auf niedrigem Niveau geschützt, dafür sind jedoch die untersten mittleren Einkommen besonders betroffen, die gerade nicht mehr in den Bezug von Transfermitteln kommen aber noch keineswegs zu den Gutgestellten gezählt werden können.

In unserer Gesellschaft mit einer wachsenden Anzahl von Alleinerziehendenhaushalten (darunter mehrheitlich Frauen), trifft dies in besonderem Maße qualifizierte Frauen, die wegen ihrer Kinderziehungs- oder sonstiger Familienpflichten keine Vollzeitstellen wahrnehmen und sich deshalb am untersten mittleren Einkommensniveau befinden.

Jahrzehntelang wurde die eigenständige Existenzsicherung von Frauen gefordert. Der Ausbau und die Nutzung des Qualifikationsvermögens von Frauen stand bei allen Parteien auf der obersten bildungs- und wirtschaftspolitischen Prioritätenskala. Frauen sahen und sehen daher in der Qualifizierung, der beruflichen Tätigkeit und Karriere nicht nur eine Lebensperspektive, sondern die entscheidende ökonomische Grundlage für ihre eigenständige Existenzsicherung.

Viele Arbeitnehmerinnen - insbesondere der mittleren Generation - haben mit diesem politisch gewollten und unterstützten Leitbild vor Augen zur eigenen Altersabsicherung Kapitallebensversicherungen oder Versicherungen auf Renten-Basis abgeschlossen um die Einkommens- und Renten-Nachteile auszugleichen, die sie durch Übernahme vielfacher unbezahlter Tätigkeiten für die Familie und für die Gesellschaft auf sich genommen hatten. Gerade Frauen waren und sind gezwungen, aufgrund
  • unterbrochener Erwerbstätigkeit (Patchworkbiografien),
  • generell geringeren Einkommen (insbesondere in den sog. Personenbezogenen Dienstleistungsberufen),
  • Annahme von Teilzeittätigkeiten aufgrund mangelnder Vollzeitstellen,
  • Kindererziehungsphasen,
  • Pflege von Angehörigen,
  • Problemen beim (Wieder-)Einstieg in die Arbeit nach Familienphase
  • vorübergehender Arbeitslosigkeit,
sich besonders langfristig vorausschauend abzusichern.
Die Vermögensanrechnung von Ersparnissen zur Alterssicherung greift massiv in die Lebensplanung insbesondere der mittleren Frauengeneration ein und führt in Altersarmut, obwohl gerade diese Frauengeneration sich auf staatliche Versprechungen und Leitbilder eingelassen hatte.

Wir erwarten gravierende Folgen für die Qualifikation, die Einkommenssituation und die soziale Absicherung von Frauen, wenn die o.a. Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzreform nicht in entscheidenden Punkten geändert wird.


... hier geht’s zur Fortsetzung des Offenen Briefes II ...



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Beitrag vom 13.10.2003

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