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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.07.2003


Gender-Gerechtigkeit bei den Reformen der Agenda 2010: der Deutsche Frauenrat, der sich als Lobby der Frauen versteht, befürchtet eine Umverteilung zu Lasten von Frauen
Gerlinde Behrendt

Die Regierung verlagert die Reformarbeit in Kommissionen: In der Hartz-Kommission war keine Frau, in der Rürup-Kommission sitzt eine Frau - das Thema "Gender" spielt in beiden keine Rolle




Die Witwenrente wird zum "Auslaufmodell"....

Sozialpolitik in der Bundesrepublik ist hartnäckig von Leitbildern aus dem 19. Jahrhundert geprägt: Männer sind vorrangig für das Einkommen zuständig, Frauen leisten unbezahlte Arbeit, vor allem in der Familie, sind allenfalls "Zweitverdienerinnen" und müssen in der Regel unterstützt werden. Die Vorsitzende des Frauenrats, Inge von Bönninghausen, definierte dagegen "Geschlechtergerechtigkeit":
Jede/r Erwachsene soll in der Lage sein, sich seine/ihre Existenz in allen Lebenslagen eigenständig zu sichern. Wird jedoch die Einkommenslage in Deutschland geschlechtsspezifisch betrachtet, so sind die Unterschiede unverhältnismäßig: Frauen verdienen trotz teilweise besserer Ausbildung im Durchschnitt 25% weniger als Männer, das ist einerseits den traditionellen "Frauenberufen" und der Teilzeitarbeit geschuldet. Neuere Untersuchungen zeigen aber auch, dass dieselbe Differenz bei höheren Einkommen zu beobachten ist
. Unter diesen Bedingungen konnten Frauen sich bisher kaum mit ihrer Arbeit eigenständig absichern. Was muss also berücksichtigt werden, um die Sozialsysteme zu "modernisieren" und die Lebenslagen von Frauen möglichst zu verbessern - zumindest aber nicht zu verschlechtern? Frau von Bönninghausen benennt einige Problemfelder der laufenden Diskussion:
- die Einrichtung von "Minijobs" ist für Frauen wenig hilfreich, wenn eigene Existenzsicherung und private Altersvorsorge betrieben werden soll,
- die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hilft Frauen vor allem dann nicht weiter, wenn sie auf den hinteren Rängen der "Bewerberbestände" der Arbeitsvermittlung landen,
- die verschärfte "Bedürftigkeitsprüfung" bei der Arbeitslosenhilfe betrifft fast ausschließlich Frauen, da sie ihren eigenen Leistungsanspruch verlieren, wenn der Partner ein höheres Einkommen hat. Sie sind somit wieder abhängig vom Mann,
- vor allem sind Frauen aufgrund niedriger Einkommen für die Arbeitsämter "billiger", die Vermittlung konzentriert sich aber auf die "teuren" Arbeitssuchenden, also Männer,
- Frauen sind betroffen vom Wegfall der Fortbildungsmaßnahmen, in diesem Jahr sind aufgrund der gestiegenen Qualitätsanforderungen der BfA 22% der Maßnahmen gestrichen worden.

Ein moderes Sozialsystem muss in der Lage sein, flexibler auf geänderte Lebensumstände reagieren zu können: homosexuelle Partnerschaften, alleinlebende Frauen, alleinerziehende Frauen, Scheidungen, Patchworkfamilien usw. sind mit den "abgeleiteten" Unterhaltsansprüchen nicht mehr abgedeckt. Die sozialen Sicherungssysteme werden aber in Zukunft nur dann noch funktionieren, wenn Frauen gleichberechtigt, mit eigenem, gleich hohen Einkommen und ebenso mit gleichen Abgaben am Arbeitsleben teilnehmen.

Vom vergeblichen Warten auf den Märchenprinzen...

Prof. Barbara Riedmüller, Freie Universität Berlin, vergleicht in ihrem Forschungsbereich europäische Sozialversicherungssysteme. In Deutschland ist das Leitbild des alleinverdienenden männlichen "Ernährers" deswegen so langlebig, weil es im Sozialversicherungssystem - und per Generationenvertrag auch langfristig - verankert ist:
- Frauen und Kinder sind in der Krankenversicherung "mitversichert",
- Frauen glaubten bisher, heiraten zu müssen, weil sie nach dem Tod der Ehemänner eine abgeleitete "Witwenrente" bekommen, deren Niveau ausschließlich vom Mann abhängig ist, eigene Ansprüche reichen in der Regel nicht aus,
- Frauen, die nur wenig "dazuverdienen", werden durch Steuererleichterungen, durch "Ehegattensplitting", unabhängig von Kindern , "belohnt".
Das alles führt in der Summe dazu, dass die Frauenerwerbsquote in Deutschland bei 50% liegt, in Europa der vorletzte Platz - der Durchschnitt liegt bei 75% -, nur Italien liegt noch hinter Deutschland. Das deutsche Modell ist natürlich schon deswegen obsolet, weil es im Hinblick auf unabhängigere Lebensformen nicht mehr funktioniert. Frauen wollen nicht mehr unbedingt heiraten, Kinder werden häufig allein aufgezogen, der Stellenwert der Arbeit wird wichtiger. Die deutsche Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung ist darauf nicht vorbereitet. In Zeiten knapper werdender Arbeitsplätze müssen sich Frauen - gerade geschehen in Ostdeutschland - vorwerfen lassen, dass ihre "gestiegene Erwerbsneigung unnatürlich" sei, auch unverheiratete Frauen werden auf Teilzeitarbeitsplätze abgeschoben. Vor diesem Hintergrund ist eine Modernisierung für Frauen dringend wünschenswert. Sie müsste den vollen Zugang zum Arbeitsmarkt und die gleichberechtigte Teilhabe am Sozialsystem zum Ziel haben.

Sollte man nicht einen ehrlichen Schnitt machen und - wie in Schweden - die Witwenrente einfach abschaffen? Das ist wiederum nicht so einfach. Bisher wurde eine "policy of non-decisions" betrieben. Für Männer ist das alte "Versorger" Modell bequem, weil sie dadurch bis ins hohe Alter umhegt werden, es schließt allerdings Männer aus, die nicht in der Lage sind, die "Ernährerrolle" auszufüllen. Auch für Frauen hat die Versorgerehe Vorteile, wenn sie bereit sind, Verantwortung abzugeben. Aber ist es wirklich so? Warten die deutschen Frauen auf den "Märchenprinzen"?

Frau Riedmüller warnt die jetzige berufstätige Frauengeneration davor, sich noch auf die Versorgung durch Ehemänner zu verlassen.Rentenkürzungen, Abbau "versicherungsfremder" Leistungen, nachgelagerte Besteuerung - die durchschnittliche Witwenrente läuft spätestens in 20 Jahren auf Sozialhilfeniveau hinaus.

Die Reformbemühungen ändern nichts am konservativ-korporatistischen Leitbild des "Familienernährers"

Die Arbeit an der Reform konzentriert sich im Moment aber hauptsächlich darauf, die "Leistungsträger" - also die Firmen -, und die großen Einkommen - also die der Männer -, von sozialen Abgaben zu "entlasten". In der Hartz Kommission kommen Frauen nicht vor, bei der Arbeitsvermittlung werden "Haushaltsvorstände" immer noch bevorzugt vermittelt, die vollwertige Integration der Arbeitnehmerinnen gehörte nicht zu den politischen Vorgaben. Bei der privaten Alterssicherung gibt es keine Unisex-Tarife - wie sie z.b. in Schweden gesetzlich vorgeschrieben sind -, das Risiko der Alterslanglebigkeit wird nicht auf die Geschlechter verteilt, sondern auf die Frauen "abgeschoben", bei der hiesige Versicherungswirtschaft ist der Begriff "Unisex" nahezu unbekannt.
Wenn es jetzt bei der Kindererziehung Bewegung gibt, so ist die Begründung nicht die gestiegene Erwerbsneigung der Frauen, sondern das schlechte Abschneiden deutscher Kinder bei der Pisa - Studie.

Ganz offensichtlich ist die Frauenfrage in der Sozialpolitik nachrangig. Können sich Frauen nicht als Wählerinnen durchsetzten? Frau Riedmüller winkt ab: die Folgen der jetzt getroffenen Entscheidungen werden Frauen erst in Jahren zu spüren bekommen, bis dahin fühlt sich keine Regierung mehr verantwortlich.

Im europäischen Vergleich bedeutet eine höhere Frauenerwerbsquote auch eine höhere Geburtenrate!

Fragt man hierzulande männliche Sozialpolitiker, warum sie trotz offensichtlich geänderter Lebensläufe immer noch hartnäckig an der Versorgerehe festhalten, so bekommt man häufig die Antwort: weil arbeitende Frauen noch weniger Kinder bekommen. Dem widerspricht Frau Riedmüller entschieden. Vergleichende europäische Statistiken belegen, dass in Ländern mit hoher Frauenerwerbsquote auch die Geburtenrate höher liegt, es bestehe eine Korrelation zwischen Geburtenrate und Frauenerwerbsquote. Das setzt aber voraus, dass über Gesetzgebungsverfahren andere Sicherungsstrukturen festgeschrieben werden, "Flexecurity" lautet das Stichwort.

Dr. Stefan Etgeton, Gesundheitsreferent der Verbraucherzentrale und Mitglied der Rürup-Kommission, bestätigt die Analyse von Frau Riedmüller für den Gesundheitsbereich. Es ist lediglich eine Frau in der Reform-Kommission vertreten, und ihre Aufgabe ist nicht die Gender Analyse der Reform. Dabei sind Frauen hier in besonderem Maße betroffen, weil die Leistungen, die als "versicherungsfremd" ausgegliedert werden sollen - ähnlich wie bei der Rentenversicherung - nahezu ausschließlich Frauen betreffen: Familienplanung, künstliche Befruchtung, Schwangerschaftsbetreuung. Bei der Tendenz zur Abkehr vom Solidaritätsprinzip und der Hinwendung zu "mehr Eigenverantwortung" kann man sich des Beifalls gutverdienender Männer sicher sein: die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist hierbei nicht mitgedacht.
Etgeton bringt auch die "Bürgerversicherung" nach dem Schweizer Modell in die Diskussion ein: es zahlen alle berufstätigen Schweizer Bürger 9% ihres Einkommens in die Sozialversicherung ein, auch bei unterschiedlichen Einkommen, am Ende bekommen alle dasselbe heraus. Die deutsche Versicherungswirtschaft wehrt sich vehement, weil es eine Abkehr von einer heiligen Kuh, vom "Äquivalenzprinzip" bedeuten würde, nachdem derjenige, der viel einzahlt, auch viel herausholen möchte. Und das System fördert die Mentalität, "viel herauszuholen", ein Systemwechsel ist dringend angeraten.

Dr. Rolf Schmachtenberg vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit macht geltend, dass die Bundesregierung an eine Richtlinie der Europäischen Union gebunden ist, es müsste nach dem Lissaboner Beschluss bis 2010 eine Frauenerwerbsquote von 70% erreicht werden. Wie das zu schaffen ist, lässt sich allerdings in der gegenwärtigen Umorientierungsphase der Bundesanstalt für Arbeit noch nicht sagen.

Fazit:

Frauen wünschen dringend eine Modernisierung der Sozialversicherung. Das Leitbild muss die eigenständige Versorgung aller Erwerbstätigen ohne Ausnahme sein. Besser eine konsequente Abschaffung aller abgeleiteten Versorgungsansprüche, als ein halbherziges Herumdoktern an der Witwenrente, bei der Frauen in der nächsten Rentnergeneration eine böse Überraschung erleben. Das setzt voraus, dass Frauen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Bei den privaten Zusatzversicherungen soll es gesetzlich verankerte Unisex-Tarife geben, eine Bürgerrente nach Schweizer Modell ist zu diskutieren. Die Modernisierung ist eine Chance für Frauen, aber nur wenn sie auch an den gesellschaftlichen Reformprozessen und an der bezahlten Erwerbsarbeit beteiligt werden. Andernfalls ist zu befürchten, dass die großen Verliereinnen der Reform die Frauen sein werden.


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Beitrag vom 07.07.2003

Gerlinde Behrendt