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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 05.09.2005


Offener Brief an Alice Schwarzer
Renate Künast

Liebe Alice Schwarzer,
Sie haben ja so recht: Wo Frau draufsteht, ist nicht immer Frau drin. Gut, dass Sie in Ihrer letzten Emma-Ausgabe vor den "Bushfrauen" warnen.




Schade nur, dass Sie das für den Tag, an dem wir Frauen in Deutschland endlich Farbe bekennen können, nicht tun: für den 18. September.
Wir Frauen haben die letzten beiden Wahlen entschieden, so die klare Analyse der Meinungsforschungsinstitute. Gut ausgebildet, selbstbewusster denn je und vor allem unabhängiger haben die Frauen in Deutschland das Mächteverhältnis verändert: Weg von der strukturellen Macht der Konservativen hin zu einem klaren Bekenntnis für eine offene, tolerante und der Gerechtigkeit und Erneuerung verpflichtete Gesellschaft. Dass jeder und jede so sein kann, wie er oder sie will, dass unser Land auch international eine verantwortungsvolle und selbstbewusste Rolle übernimmt, das ist eine der vielen Selbstverständlichkeiten, die ein modernes Deutschland ausmachen.
Wie werden sich die Frauen dieses Mal entscheiden? Es ist offensichtlich, liebe Alice: Sie sind betört von der Idee, es könnte zum ersten Mal eine Bundeskanzlerin geben. Wer von uns wünscht sich das nicht seit langem?
Aber, und das ist spätestens beim zweiten Blick klar: Wir wollen nicht nur eine Frau. Wir wollen eine Frau, die ihr Frau-Sein ernst nimmt, die aus ihrer eigenen Biographie und der Geschichte gelernt hat. Die verstanden hat, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Teilhabe von Frauen, ihrem Anteil an der Erwerbsarbeit und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Landes. Und dass es hier um ein entscheidendes Reformprojekt für unser Land geht.
Da haben Sie Recht: Eine "Bushfrau" wird, so hat es auch Tissy Bruns gut im Tagesspiegel beschrieben, genau das Gegenteil bewirken. Sie wird die Familie im Wort führen wie der Rest ihrer Partei, sie wird aber im Zweifel denjenigen Tür und Tor öffnen, die die Frauen wieder an Herd und Wickeltisch sehen wollen. Und den Frauen ihre hart erkämpfte finanzielle Unabhängigkeit und schließlich ihr Selbstbewusstsein nehmen wollen.
Wir müssen also genau hinsehen: Was steht drauf und was steht drin.
Oder aber auch: Wer wird Kanzler oder Kanzlerin und wer setzt was in der Exekutive um? Ein Beispiel: Herr Kirchhof. Wir alle kennen die Zitate und kaum jemand kann sie so recht begreifen, scheint es. Wir müssen das aber, wenn wir ehrlich einschätzen wollen, was Merkel zur Wahl stellt.

"Wie sieht Familienglück in einer wirklich gelebten, echten Gemeinschaft von Eltern und Kindern aus? Die Mutter macht in ihrer Familie Karriere, die nicht Macht, sondern Freundschaft verheißt, nicht Geld, sondern Glück bringt."
Das ist die Wahrheit hinter "Victress" und dem Slogan "Mut zur Macht". Superminister Kirchhof soll dafür sorgen, dass Macht und Geld endlich wieder Männersache sind. Ich bin versucht zu sagen: Merkel und Kirchhof, das verhält sich wie die glückliche Henne auf der Packung Käfigeier.
Sie mögen vielleicht entgegnen, dass Herr Kirchhof doch nicht wegen seines Frauenbildes, sondern seiner Finanzkompetenz ausgewählt worden ist (wobei klar sein muss, dass angesichts des Hü und Hott im Falle Kirchhof und Merzscher Attacken auch hier die Wählerinnen bestenfalls die "Katze im Sack" kaufen können). Doch Sie wissen auch, wie alle Frauen, die wir seit Jahrzehnten Politik machen oder verfolgen, dass gender budgeting nicht umsonst erfunden wurde. "Mut zur Macht", wie Frau Merkel am Montag abend werben wird, heißt eben gerade, sich den harten Themen und damit der Steuer- und Finanzpolitik zu widmen und genau hinzusehen, was am Ende herauskommt: Ja, für die Frauen!
Gestatten Sie mir als Verbraucherschutzministerin einzufordern, dass das, was drin ist, auch klar erkennbar sein muss!
Kein Wunder, dass die Union von Kennzeichnung nicht allzu viel hält.
Frau Schwarzer: Sie haben mich politisch immer begleitet. Ich habe viel von Ihnen gelernt. Und ich setze auf Sie! Klären Sie auf! Wir brauchen die kritische Journalistin mit feministischem Herzblut! Sorgen Sie dafür, dass wir nicht an der Oberfläche und den neuesten Frisuren von Herrn Waltz hängenbleiben. Sehen Sie hin, sagen Sie uns Frauen, was drin ist!
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
www.renate-kuenast.de


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Beitrag vom 05.09.2005

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