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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 28.08.2003


Spaziergänge ober- und unterhalb der Erdoberfläche Berlins
Jana Scheerer

"Und was war das?" Wer solche Fragen bei Berlinrundgängen mit westdeutscher Verwandtschaft mit Schulterzucken beantwortet, sollte "Berlin (DDR)" lesen. Oder die Sippe in den Untergrund schicken.





Genau so, wie die Mauer jahrelang aus dem Berliner Stadtbild kaum wegzudenken war, scheint heute die Vereinigung Berlins völlig natürlich. Dass trotzdem noch viele Orte in Berlin an die Teilung Deutschlands und den Staat DDR erinnern, offenbart Martin Janders Streifzug durch Ostberlin.

Die Ostseite des geteilten Berlins zeigt auch der Bildband "Geisterbahnhöfe" - allerdings unter der Erdoberfläche. Dort verkehrten Züge der Westberliner Verkehrbetriebe, die an den Ostberliner Bahnhöfen naturgemäß nicht halten durften. Die betroffenen Bahnhöfe wurden nach Bau der Mauer geschlossen und teilweise von Grenzsoldaten der DDR bewacht.

Der unheimliche Anblick der im Dunklen liegenden, halb verfallenen Haltestellen gehörte in den Jahren von 1961-1989 zu einer S-Bahnfahrt in Berlin. Heinz Knobloch, Michael Richter und Thomas Wenzel geben in ihrem Buch einen Einblick in diese "Unterwelt" , von der heute auf den wiederhergestellten Bahnhöfen nichts mehr zu erahnen ist.

Zurück über dem Erdboden führt Martin Jander in grob chronologischer Reihenfolge an zwanzig für die Geschichte der DDR bedeutsame Orte. Dabei werden sozialistische Gedenkstätten genauso einbezogen wie Orte der DDR-Opposition. Besonders interessant sind die differenzierten Kommentare zum Umgang mit der deutschen Geschichte in der DDR.

So bemerkt der Autor, dass die Gedenkstätte Sachsenhausen zu DDR-Zeiten stark auf die Erinnerung an die kommunistischen Befreier des KZ angelegt war und die Opfer und ihr Leid so zu wenig Raum erhielten. Ein Besuch der Gedenkstätte bekommt durch diese Einsicht auf einer zweiten, metahistorischen Ebene Bedeutung.

Auch das ehemalige Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in der Genslerstraße 66 ist heute eine Gedenkstätte. Durch die Gebäude führen ehemalige Häftlinge, so dass ein authentischer Eindruck von den Haftbedingungen entsteht. Schon die wenigen Worte, in denen Martin Jander die Verhältnisse in diesen Gebäuden schildert, lassen den Schrecken ahnen, den politische Häftlinge hier erlebten.

Um den äußeren Eindruck zu verbessern und international verhandlungsfähig zu sein, veränderte der Staat seinen Umgang mit Oppositionellen im Laufe der Zeit. Wie subtil dabei die Methoden der Staatssicherheit waren, ist im Dokumentationszentrum der Gauck-Behörde in der Mauerstraße nachzuvollziehen.

Die Geschichte solcher Gebäude kann jedoch zugleich eine Erfolgsgeschichte der Selbstbefreiung sein, wie die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße zeigt. Hier war das Ministerium für Staatssicherheit untergebracht, das ehemalige Arbeitszimmer von Stasi-Chef Erich Mielke ist heute zu besichtigen. Die Stürmung des Gebäudes durch BürgerInnen der DDR am 15.Januar 1990 ist mittlerweile zu einem der Bilder geworden, das für immer mit der Wendezeit verbunden bleiben wird.

Der Autor führt auch an Orte, die nicht wirklich zu besichtigen sind. So stellt er den Emil-Fischer-Hörsaal der Humboldt-Universität vor, in dem Robert Havemann im Wintersemester 1963/64 seine berühmte Vorlesung über "Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme" hielt. Unter anderem fiel hier auch der Satz "Sozialismus ist ohne Demokratie nicht zu realisieren" - in dieser Zeit Worte mit nicht zu unterschätzender Sprengkraft.

Martin Jander zeichnet ein Bild von Ostberlin, das alles andere als ostalgisch ist. Sicher könnte ein politischer Stadtspaziergang auch ins Haus der jungen Talente (heute Podewil) als Veranstaltungsort des Festivals des politischen Liedes führen. Der Grund für seine Wahl ist sicher in der Biographie des Autors zu finden: Er hatte Kontakt zu Dissidenten in Ostberlin und fühlt sich in seinem Blick durch sie geprägt.

Doch "Berlin (DDR). Ein politischer Stadtspaziergang" ist nicht nur durch diese subjektiven Gründe als Repräsentation der DDR legitimiert: Nicht zuletzt zeichnet es ein Bild der DDR, das den Opfern des Regimes Raum gibt und so einem nachträglichen Verklären oder Verdrängen Vorschub leistet.

Und die Schlussfolgerungen, die aus den interessanten Darstellungen und Fakten des Buches gezogen werden, liegen letztendlich genauso bei der LeserIn wie die Entscheidung, tatsächlich zu einem Stadtspaziergang aufzubrechen oder im Sessel Ostberlin an sich vorbeiziehen zu lassen.




Martin Jander
Berlin (DDR)
Ein politischer Stadtspaziergang

CH Links Verlag Berlin, 2003
ISBN 3-86153-293-X
12,90 Euro

Heinz Knobloch, Michael Richter, Thomas Wenzel
Geisterbahnhöfe
Westlinien unter Ostberlin

CH Links Verlag Berlin, 2003
ISBN 3-86153-034-1
24 Euro 200830161175" .






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Beitrag vom 28.08.2003

AVIVA-Redaktion