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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.09.2002


Friedrichshain - familiäre Atmosphäre - Teil 1
Kathrin Schrader

Man kennt sich in Friedrichshain: Eine dynamische Gemeinschaft aus Studenten oder Künstlernaturen, jungen Zugezogenen und Alteingessenenen.




Streunen im jüngsten Szene-Bezirk von Berlin

Jeder Kiez in Berlin hat ja bekanntermaßen seinen janz eigenen Charakter. So kann man, auch als eingesessene BerlinerIn, immer wieder andere Mentalitäten im Mikrokosmos Hauptstadt erschnüffeln.
So z.B. im Schoß der Friedrichshainer "Familie": Eine gewachsene Gemeinschaft aus Alteingessenenen, ehemaligen Hausbesetzern mit ihren zahlreichen Hunden und all den jungen Zugezogenen, Studenten oder Künstlernaturen, die sich einer vergleichsweise billigen Miete erfreuen. Der Grundtenor in dieser Familie, das merkt man schnell, ist ungeschnörkelt, schon mal ein bisschen ruppig, aber auch charmant und warmherzig.

Rauer Wind und russische Wärme - Familiengeister


Das Conmux, auch ein Aktivist der ersten Friedrichshainer Stunde, ist nichs für sensible Naturen. Durch das archaische Ambiente weht ein rauer Wind. Eine Kneipe, die Hausmannskost anbietet mit dem ersten Ziel, den Magen der Gäste und ihrer Hunde zu füllen. Gerätschaften aus Eisen, die gut auch Folterinstrumente sein könnten, dominieren die Düsternis. Hell angestrahlt sind lediglich die monströsen Weiber auf roter Leinwand, geschaffen von dem Maler Norbert Folberger. Sie dämonisieren den Raum noch bis Ausstellungsende.

Conmux,
Simon-Dach-Strasse,
Öffnungszeiten: tägl. 9 - 2 Uhr


Auch im Rasputin hinterlässt Norbert Folberger künstlerische Spuren. Seine Frau führt dieses original russische Restaurant. Orangefarbene Wände, viel Gold, die Wärme und das Temperament Russlands stimmen die Friedrichshain-Familie im Rasputin auf einen Teller Pelmeni oder ein saftiges Boef Stroganoff ein. Rasputin selbst wacht mit grimmigen Blick von einem Ölbild hinter der Theke.
Freitags spielen russische Musiker auf und es muss getanzt werden. Außerdem möchte das Rasputin jungen, noch unbekannten Künstlern einen Ausstellungsort bieten.

Cafe und Restaurant Rasputin,
Krossener Strasse 15,
Tel. 29 04 95 97,
Öffnungszeiten: Mo - Fr ab 17 Uhr Sa/So ab 10 Uhr

Sprechende Ofenkacheln - Das Familien-Erbe


Doch auch im Friedrichshain wird saniert und immer mehr Häuser bekommen das freundliche Gesicht der Wohlstandsgesellschaft. Auf den Schuttbergen verlassener Wohnungen fand die Kiezfamilie eine Menge Raritäten, die in den unterschiedlichsten Interieurs zu Ehren kommen, das alte Radio aus den fünfziger Jahren zum Beispiel.
Die Künstlerin Martina Minette Dreier hat aus den Ofenkacheln aller Zeiten einen respektvollen, kleinen Weg der Erinnerung quer durch ihre Ausstellung "Die Sprache der Steine" gelegt.
between whiles,

offenes Atelier,
Simon-Dach-Strasse 12,
HH, 1. Stock ,
Öffnungszeiten: mo, do, fr.: 17.00 - 21.00 Uhr
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Heilige - Die Familien-Religion


Der heilige Cayetano weist den Weg zu einem spirituellen Ort. In den Fußboden eingelassene Hände und puppenhafte Masken an den Wänden wirken seltsam surreal. Zunächst ist da nur die lange Cocktailbar. Nach links aber führt der Weg in einen Altarraum und da steht sie: Die Madonna, eingehüllt in ein starres Kupfergewand, besetzt mit bunten Strasssteinen, aus dem ihr nackter Kopf und ihre winzigen Puppenärmchen ragen. Segnend breitet sie die Plastik-Hände aus. Leider funktioniert im Moment die Nebelmaschine nicht. In dieser Kapelle können die Gäste des Restaurant Cayetano einen Raum für ihre Spiritualität finden, erklärt der Inhaber. Essen darf man zu Füßen der Madonna selbstverständlich auch.
Zum Beispiel die beliebten Papas - gebackene Kartoffelstücken mit unterschiedlichen Soßen oder eine Käseplatte zum Wein, die je nach Hunger, von ein oder zwei Leuten verputzt werden kann.

Nach anfänglicher Skepsis hat die Friedrichshain-Familie die spanische Küche angenommen und pilgert nun regelmäßig ins Cayetano. Das Cayetano sucht übrigens noch einen DJ, der nicht nur Salsa auflegen kann.

Cayetano,
Simon-Dach-Strasse/Ecke Kopernikus-Strasse,
Öffnungszeiten: Mo - Fr ab 17 Uhr Sa ab 12 Uhr. So ab 10 Uhr, Tel. 29 66 26 93,

Trés chic oder lieber trashig - Die Familien-Mode

Zuweilen gibt sich die Friedrichshain-Familie spröde und reagiert genervt auf Besucher, die in der Gegend um den Boxhagener Platz die neueste Attraktion Berlins suchen. Professionelle Freundlichkeit hält sie für überflüssig, genauso wie Visitenkarten. Wozu auch? Wer will, findet im Netz alles über die Familie, unter www.simon-dach-strasse.de. Die Familie: das sind Berliner Familien, die aus Mangel an Geld oder Gelegenheit hier geblieben sind, Studenten, die die billigen Mieten in den noch unsanierten Häusern schätzen und einige, die einer satten, markenorientierten Gesellschaft geflohen sind, wie die beiden Inhaber des Second Hand-Ladens Traschick.
Man kann stundenlang in dieser unaufdringlichen Atmosphäre suchen, ohne dass jemand "super" oder "sieht toll aus" schreit. Das eigene Spiegelbild muss jeder selbst aushalten und bewerten. Es gibt viel zu entdecken, denn das Traschickist bei weiten nicht so überlaufen wie die Second Hand - Läden in Mitte und Prenzlauer Berg. Demnächst verleiht das Traschick auch mittelalterliche Kostüme, Hochzeitskleider und vieles mehr.

Traschick, Secondhand Kleidung, Schuhe, Accesoires,
Wühlischstrasse 31,
Tel. 27 57 44 37

Warenhäuser - Die Familie geht einkaufen

Der Papagei aus dem indischen Chapati-Laden steht heute auf dem Bürgersteig und quasselt auf die Vorübergehenden ein. Ab und zu bleibt jemand stehen und streichelt ihm den Schnabel. Dann verstummt er kurz und schaut ein bißchen verlegen durch die Gitterstäbe. Gegenüber sitzt die Inhaberin des Tarsus auf der Schwelle ihres Geschäftes. Das Tarsus bietet Schuhwerk im Familienstil, höchst veredelt. Die beiden jungen Frauen, die den Laden führen, sprühen professionellen GründerInnengeist, dem jegliche Arroganz fern ist.

Tarsus Schuhwerk,
Simon-Dach-Strasse 13,
Tel. 29 66 71 56,
Öffnungszeiten: Mo - Fr 11, 30 --20 Uhr, Sa 12 - 16 Uhr


Wer hofft hier noch auf die Gunst der Familie und ihrer Besucher? Kürzlich öffnete das Verrutschi eine Filiale - tragbare Kleidung für Frauen mit einem Schuss Extravaganz. Die Preise sind moderat. In den gleichen Räumen hat sich das Vertigo eingemietet, ein Geschäft, daß exotische Möbel und Wohnaccessoires anbietet.

Verrutschi/Vertigo,
Simon-Dach-Strasse 13, Tel. 25 76 81 68,
Öffnungszeiten: Mo-Fr 12 - 20 Uhr, Sa 12 - 16 Uhr


Zwei junge Designer verwandelten einen alten Laden in ein helles Schneiderstudio, in dem sie witzige, farbenfrohe Kleidung produzieren, wobei sie sich von barocken Kostümen genauso wie von Techno-Trends inspirieren lassen.

Ferdinand moreau boutique,
Kopernikusstrasse 21,
Tel. 29 44 98 99
Öffnungszeiten: Mo - Fr 11 - 20 Uhr, Sa 11 - 16 Uhr


Unendliche Weiten - Familien-Ausflug

Über wundersame Pflanzenkraft bieten Familienmitglieder im Hempgalaxy Aufklärung. Anschließend öffnet ein himmelblauer Cocktail in der Star-Trek-Kantine Zehn vorne den Geist für die unendlichen Weiten. Der gewaltige Meteoriteneinschlag in der Decke erinnert an die Schlachten der Förderation. Bei spaciger Musik beginnen die Planeten und Sterne an den Wänden zu tanzen. Mit einem Romulan Ale oder Klingon Blood Wine kann man sich ins Hinterzimmer verkrümeln und, umgeben von lebensgroßen Pappfiguren der Besatzungsmitglieder, Videos anschauen. Für überirdischen Hunger liefert der Ferengi, sorry, der Italiener von nebenan, Pizza. Geheimtip für Trekkies: Jeden Sonntag gibt es eine Überraschung...

Zehn vorne,
Simon-Dach-Strasse 8,
Tel. 2 91 21 58,
Öffnungszeiten: tägl. ab 15 Uhr


Hempgalaxy, Head & Grow Shop,
Simon-Dach-Strasse 10, Tel. 2 91 67 75,
Mo-Fr 11.30 - 19.30 Sa 11.00 - 15.00


Gegenüber, in der Astro-Bar, rangelt die Szene ganz Berlins nachts um einen Platz an der Bar oder um ein Eckchen auf den rosa siebziger-Jahre-Ledersofas. Die großzügig gemixten Cocktails liegen zwischen 4,-- und 5,-- EUR.
Doch warum sitzen? Gediegene DJs bieten jede Nacht ein besonderes Thema, von Reggae, Ragga über Soul und Funk bis zu Big Beat.

Astro-Bar
Simon-Dach-Strasse 40
Öffnungszeiten: täglich ab 18 Uhr


Neugierig geworden auf die Friedrichshain-Familie? Übrigens ist auch der Flohmarkt am Sonntagvormittag spannend geworden. Mittlerweile gibt es außer vietnamesischen Pullovern und geklauten Handys wirklich sehenswerte Kleinigkeiten.


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Beitrag vom 04.09.2002

AVIVA-Redaktion