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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 03.01.2013


Ljudmila Petruschewskaja - Sie begegneten sich, wie das so vorkommt, beim Schlangestehen in der Bierbar. Russische Liebesgeschichten
Dana Strohscheer

Liebe ist nicht nur rosarot und himmlisch, sondern auch vereinnahmend, beängstigend, unverstanden und skurril. Eben diesen weniger populären Formen der Liebe mit all ihren emotionalen Abgründen...




... widmet sich die vorliegende Erzählsammlung.

Großmutter Olja, die sich immer um alle kümmert, verliebt sich im hohen Alter. Nicht in irgendjemanden, sondern in das amerikanische Leinwandidol Robert Taylor. Ohne Vorbereitung und ohne zu wissen, was mit ihr passieren wird, geht sie an einem Nachmittag ins Kino "und da erlosch auch schon das Licht, und das Paradies brach ein". Ab diesem Moment kann sich Olja nicht mehr von ihrem Helden lösen. Abfällig betrachtet sie die anderen älteren Damen, die schnatternd vor dem Kinoeingang auf eine erneute Vorführung warten - was hat sie mit denen gemein? Wenn Olja etwas macht, dann richtig - sie organisiert Treffen, sammelt Zeitungsausschnitte und wirkt in ihrer Vitalität um viele Jahre jünger. Dass dabei einige Menschen, denen sie vorher selbstlos geholfen hat, auf einmal zu kurz kommen, liegt in der Natur der Sache...

Was auf den ersten Blick wie eine überzogene Phantasterei wirkt, birgt bei genauerem Hinsehen viele Parallelen zum heutigen Fantum - ob nun in sozialen Netzwerken den Idolen gehuldigt wird oder Stars zum Anfassen in Castingshows "gemacht" werden - hinter all dem steht die Sehnsucht nach dem Besonderen, nach der Erhebung über den mühevollen Alltag.

Erzählungen wie diese machen auch das Buch von Ljudmila Petruschewskaja zu etwas Besonderem. Denn es gelingt ihr, alltäglichen Geschichten immer auch eine tiefer gehende soziologische Komponente hinzuzufügen, die sich erst im Nachhinein offenbart. Es sind die abseitigen Gestalten, die in ihren Prosatexten vorkommen, seien es AlkoholikerInnen oder alte Menschen, denen niemand etwas geschenkt hat und die nun zusehen müssen, wie sie über die Runden kommen. Sie alle "erwischt" es irgendwann, auf völlig unerwartete Art und Weise.

So führt Petruschewskaja den LeserInnen auch die alles erdrückende Mutterliebe vor Augen. Galja ist vollgepumpt mit Psychopharmaka und kann sich nur der aus der emotionalen Umklammerung der Mutter befreien, indem sie ihrem Leben ein Ende setzt. Diese Erzählung tut weh, denn sie wird bis zur letzten Konsequenz durchdekliniert. Darin zeigt sich das Talent der Autorin: es gibt kein "Dazwischen", keine halben Sachen. Immer wieder kippen die Erzählungen ins Groteske, ins Schaurig-Wahnhafte und offenbaren darin eine beängstigende Stringenz, gespickt mit Lebensweisheit.

So zeigt Petruschewskaja nebenbei auch immer wieder die Absurditäten des russischen Alltags. Sie ist Chronistin und Soziologin zugleich und erhebt sich nie über ihre Figuren. Die LeserInnen leiden mit an den Abhängigkeiten der ProtagonistInnen in den sechzehn Geschichten und hoffen am Ende doch immer wieder auf ein Happy End. Meist jedoch vergebens.

Dafür sorgt schon der lakonische Erzählstil der Autorin, nichts scheint ihr fremd zu sein in ihrem literarischen Kosmos, der ein ganz eigener ist. Abgründigkeiten und Frivolitäten gehen einher mit der grundsätzlichen Überzeugung, gar nicht anders handeln zu können. So bleibt mensch öfter das Lachen im Hals stecken, etwa wenn von "verschimmelten Verwandten" die Rede ist, um die sich gekümmert werden müsste. Petruschewskaja verpackt immer wieder große Erzählungen in kleine Geschichten, die genau auf den Punkt bringen, was an psychologischen Dramen im Unterbewusstsein abläuft. Nie verliert sie dabei die Liebe zu ihren AkteurInnen aus den Augen. Damit ist sie in der Tradition von Anton Tschechow zu sehen, der immer wieder menschliche Abgründe auf allzu menschliche Weise mit parodistischen Elementen versah.

AVIVA-Tipp: Die Liebe in vielen Facetten und Formen ist das Thema in den vorliegenden Kurzgeschichten der Grande Dame der russischen Erzählkunst. Jede Erzählung für sich ein Kleinod, die die zerstörerische Kraft der Liebe aufzeigt. Für FreundInnen des Grotesken ein Muss!

Zur Autorin: Ljudmila Petruschweskaja, 1938 in eine Moskauer Intellektuellenfamilie geboren, studierte Journalistik in der sowjetischen Hauptstadt und arbeitete für Rundfunk und Fernsehen. In den 1960er Jahren begann sie Prosatexte zu schreiben, die jedoch über zehn Jahre nicht erscheinen durften. Im illegalen Selbstverlag Samizdat verbreitet, machten diese Erzählungen sie zu einer der populärsten AutorInnen des russischen literarischen Untergrundes. Heute zählt Petruschewskaja zu den bekanntesten AutorInnen Russlands. 2003 erhielt sie den Puschkin-Preis, ein Jahr später folgte der Russische Staatspreis für Künste und im Jahr 2010 der World Fantasy Award. Sie lebt und arbeitet in Moskau. (Quelle:Verlagsinformationen)

Zur Übersetzerin: Antje Leetz, Jahrgang 1947, studierte Slawistik und Germanistik. Im Verlag Volk und Welt Berlin war sie fünfzehn Jahre Lektorin für russische Literatur. Anschließend arbeitete sie drei Jahre in einem Moskauer Verlag. Sie übertrug bereits Werke von Irina Ehrenburg, Ljudmila Petruschewskaja und Jelena Bulgakowa. Zudem ist sie Autorin von Radiofeatures zum Thema Russland. (Quelle:Verlagsinformationen)

Ljudmila Petruschewskaja
Sie begegneten sich, wie das so vorkommt, beim Schlangestehen in der Bierbar: Russische Liebesgeschichten

Aus dem Russischen übersetzt von Antje Leetz
bloomsbury taschenbuchverlag, erschienen 18. August 2012
Taschenbuch, 192 Seiten
ISBN: 978-3833308406
9,99,- Euro
www.berlinverlag.de

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