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Beitrag vom 02.06.2014
Ulrike Draesner - Sieben Sprünge vom Rand der Welt
Doris Hermanns
Ein facettenreicher Familienroman, der ein Jahrhundert umfasst, über Vertreibung, Migration und wie diese in den Erinnerungen fortleben, es ist authentische Geschichte verwoben mit Fiktion.
Neun verschiedenen Perspektiven machen diesen Roman aus, es sind neun Lebensgeschichten aus vier Generationen, von Menschen, die aus Deutschland und Polen stammen.
Im Mittelpunkt steht der Affenforscher Eustachius Grolmann, geboren und aufgewachsen in Schlesien, aber 1945 mit seinen Eltern und seinem behinderten Bruder in den Westen geflohen. Es wird aber nicht nur seine Lebensgeschichte erzählt, sondern durch Perspektivenwechsel auch ein Bild des Lebens der Eltern in Schlesien aufgezeigt, sowie der Erlebnisse des Vaters während des Krieges. Die Geschichte setzt sich fort im Erleben Simones, seiner Tochter, die auch über Affen forscht, dabei aber ihren eigenen Weg geht, und deren Tochter Esther, die ihrem Großvater eng verbunden ist.
Zahlreiche Themen sind in diesem Roman verarbeitet, so die Primatenforschung, die Frage nach der Ursache von Aggressionen, Migration, Vertreibung, die Auswirkungen des Krieges auf diejenigen, die ihn als Kind miterlebt haben – Stoff, der sicher auch für mehrere Romane gereicht hätte. Und dennoch gelingt es Ulrike Draesner, die verschiedenen Lebensgeschichten zusammenzufügen, so dass ein großes Ganzes entsteht. So ist Aggression ein durchgängiges Thema, das sich sowohl in den Kriegserlebnissen von Grolmanns Vater wiederspiegelt als auch in der Affenforschung. Und die Forschung lässt ihn bis an sein Lebensende nicht mehr los: "In seinem Alter forschte man nicht mehr, wenn einen nicht wirklich etwas umtrieb." Er hat seine eigenen Ideen, wie er das, was ihn umtrieb, noch herausfinden möchte und geht dabei höchst ungewöhnliche Wege.
Auf wunderbare poetische Weise schreibt Draesner aber auch von der Migration der Eltern und dem Neuanfang der Familie: "Es hat eine Bedeutung, aus welcher Landschaft man kommt, welche Erfahrungen die Familie dort machte. Mit dem Wetter, der Erde, den Menschen, dem Schlag."
Zurückzukehren ist für die Eltern keine Option, sie versuchen sich anzupassen, an die Sprache wie an die Umgebung: "Noch immer fielen uns falsche Wörter aus dem Mund. War es Viertel nach zwölf, viertel eins, Viertel vor eins oder drei viertel was?", aber die Erinnerung an das "alte Leben" bleibt präsent: "Nur zuhause, hinter der Wohnungstür, kochte ich schlesisch, sang: ´in das Himmelloch, in das Himmelloch, in das Himmelloch hinein´, nur in unseren Wohnzimmern sprachen wir Vertriebenen darüber, wie seltsam uns die Menschen hier anmuteten, katholisch und laut, derb und dann nett. Seit mehr als zehn Jahren waren wir da, und kamen noch immer an, kamen an, kamen an, trafen nie ein, langen nie hin, setzten uns nicht." Wie Grolmanns Mutter Lilly es zusammenfasst: "Man konnte hier leben, verlor nur jeden Tag etwas".
Für die Enkelin Esther ist Migration einfach selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, das überall behandelt wurden, in der Schule wie an der Universität: Flucht, Vertreibung, Zwangsverschleppung, Asyl. Des Themas überdrüssig hatte sie mit FreundInnen einen Antimigrationsblog gegründet: "Erzählungen aus Paradiesen der Sesshaftigkeit, Berichte von Stubenhockern und Bewegungsmuffeln. Diese Menschen musste es geben. Es hatte sie immer gegeben." Sie hat keinen Bezug mehr zur Flucht der Großeltern, anders als ihre Mutter war sie auch noch nie in Polen und möchte dort auch gar nicht hin. "Polen! War doch die Hölle. War doch jeder froh, wenn er weit genug geflohen war." Während die Ängste des Vaters noch in der Tochter weiterleben, sind der Enkelin seine Gegenwart und Zukunft weitaus wichtiger als seine Vergangenheit.
Sowohl der Roman als auch die dazugehörige Website beschäftigen sich mit der Frage, welchen Auswirkungen Zwangsmigration und Gewalt auf die Betroffenen haben, aber auch auf die nachfolgenden Generationen. Und wie lange diese Folgen andauern.
AVIVA-Tipp: Dem vielschichtigen Roman gelingt es, die Geschichte einer Familie auf dem historischen Hintergrund des letzten Jahrhunderts auf eindringliche Weise zu beschreiben, wobei weder das Grauen, noch die Schönheiten des Lebens ausgelassen werden. Zahlreiche Themen werden angesprochen und so ist es weit mehr als ein gewöhnlicher Familienroman.
Zur Autorin: Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, eine der profiliertesten deutschsprachigen Autorinnen, lebt in Berlin. Ihr Werk umfasst Lyrik, Prosa, Essayistik, Hörspiel. Vor allem für ihre Gedichte und Romane wurde Ulrike Draesner mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Roswitha-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Drostepreis.
Mehr Infos zur Autorin unter: www.draesner.de
Mehr Infos zu "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" und den einzelnen Themen, sowie die Möglichkeit, in der Rubrik "Selbst-Erzählen" eigene Erlebnisse zu veröffentlichen, auf der Website zum Buch: www.der-siebte-sprung.de
Ulrike Draesner
Sieben Sprünge vom Rand der Welt
Luchterhand Literaturverlag, erschienen 10. März 2014
Gebunden mit Umschlag, 570 Seiten
ISBN 978-3-630-87372-5
Euro 21,99
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