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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 21.01.2016


Jüdischer Almanach - Grenzen. Herausgegeben von Gisela Dachs mit Fotografien von Jonas Opperskalski. Verlosung
Magdalena Herzog

Erneut wird der politische und gesellschaftliche Sound eines Jahres aufgegriffen: das Thema Grenzen, das momentan die Debatten polarisiert. Siebzehn sorgfältig ausgewählte Texte betrachten... AVIVA verlost 3 Bücher




... "Grenzen" aus religiöser, philosophischer, historischer, literarischer und popkultureller Perspektive.

Seitdem im vergangenen Jahr das Wissen um Millionen flüchtende Menschen zu allen gesellschaftlichen Gruppierungen durchgedrungen ist, lassen sich kaum mehr Grenzen außerhalb der nationalen Grenzübergänge und deren Härte denken.
Den im Jahr 2015 erschienenen Jüdischen Almanach zu lesen, ist eine Möglichkeit, die eigenen Assoziationen zu weiten und Schnittstellen erneut als etwas Konstruktives zu erfahren.

Das Abstrakte von Grenzen

Wir Lesenden werden eingangs an den jüdisch-religiösen Kontext von Grenze erinnert, an die "fast körperlose Mauer" - den "Eruv". Diese Grenze gibt es meist nur in Großstädten und für Laien ist sie kaum erkennbar, denn sie besteht aus einer Stange oder einem Seil und hängt weit über Augenhöhe. Für religiös lebende Jüdinnen und Juden bedeutet diese Grenze eine Erleichterung der Schabbatgebote. An diesem Tag dürfen Gegenstände nicht von einem privaten Bereich in einen öffentlichen getragen werden, denn dies würde eine Grenzüberschreitung bedeuten. Der Eruv schafft einen privaten innerhalb eines öffentlichen Bereichs, erweitert gewissermaßen den eigenen Wohnraum und so ist es innerhalb dieser Grenzen erlaubt, Gegenstände zu tragen. Es entsteht der sogenannte "magic shlepping circle".

Die Politologin Astrid von Busekist zeigt mit ihrem Text das Spannungsverhältnis auf, in dem das Transzendente oder das Abstrakte mit praktischen Alltagsfragen bei einer religiösen Lebensführung stehen und auch, wie praxisbezogen die Antwort auf die Anforderungen halachischer Ge- und Verbote im Judentum sind. Der Text ist unterschrieben mit dem Satz "nicht alle Grenzen trennen uns" und leitet über zu allgemeinen Überlegungen des Dichters Zali Gurevitch, der Grenzen unter anderem als etwas beschreibt, um die sich die "intensivsten Treffen, die interessantesten Gespräche, die politische und kulturelle Spannung drehen". Der Text erinnert daran, dass die eigenen und die Grenzen anderer tatsächlich ein produktives und stimulierendes Moment enthalten können.

Grenzen, die grausam sind

Der thematisch zweite Teil des Almanachs widmet sich inhaltlich dem Kaiserreich und der Shoah. Es geht verstärkt um die Rolle des Reisepasses und damit stets um die Frage nach der Staatsbürgerschaft und dem Anderen, dem Fremden. Ein Gegenbeispiel ist wie so oft die Bukowina am Rand der Habsburgermonarchie, in dem eine multiethnische Bevölkerung in einer anderen Dynamik lebte als das polare Wir und die Anderen, und die jüdische Bevölkerung nicht ohne Zufall in diesem Kontext weitestgehend unbeschadet leben und eine kulturelle Blüte entwickeln konnte. Zwei weitere Texte zu Grenzen in Emigrationsberichten und die Bedeutung illegaler Flucht im Kontext der NS-Zeit stellen einerseits eine besondere Perspektive auf das Thema dar, andererseits wäre es überraschender gewesen, andere Kontexte von Flucht in der jüdischen Geschichte zu beleuchten, wie beispielweise die der Juden aus den arabischen Ländern oder die der äthiopischen Juden nach Israel. Sprachlich und inhaltlich scheint in diesem Teil der Essay von Natan Sznaider hervor. Pointiert analysiert er das ebenfalls spannungsgeladene Feld "Exil und Diaspora" in seiner abstrakten und realpolitischen Dimension und es gelingt ihm, neben dem erneuten Aufzeigen des Paradoxon der europäischen Moderne und der jüdischen Geschichte eine Verbindung zu Entwicklung des gegenwärtigen Europas zu schlagen.

Die Grenzen der Hochkultur

Der letzte und größte Teil der Aufsatzsammlung widmet sich vorwiegend zeitgenössischen Themen. Mit Abstand thematisch am innovativsten und unterhaltsamsten ausgewählt ist der Artikel des Schriftstellers und Journalisten Julian Voloj. Er führt die Leser/innen in die Geschichte des US-Amerikanischen Comics und den Kampf zwischen Hoch- und Popkultur ein. Und in die damit einhergehende Geschichte, wie Jüdinnen und Juden aus der Werbebranche ausgegrenzt wurden und sich ein anderes Betätigungsfeld suchen mussten um zu überleben und, um anerkannte Bürger/innen der Mittelklasse zu werden. 1938 kreierten die beiden Einwandererkinder aus Litauen und den Niederlanden Jerry Siegel und Joe Shuster den Archetyp der USA: den Helden Superman. Berühmt vertont wurde der Held 1977 von Barbra Streisand. Siegel und Shuster wurden mit ihrem Helden nicht nur wohlhabend und berühmt, sondern sie prägten einen entscheidenden Teil der US-Amerikanischen Kultur. Sie erlangten also genau den persönlichen Erfolg und die Gesellschaftliche Stellung, die ihnen versagt werden sollte.


AVIVA-Tipp: Der Jüdische Almanach 2015 besticht durch kompakt geschriebene und sehr zu gut lesende Aufsätze und Romanauszüge renommierter Wissenschaftler_innen und Autor_innen. Religiöse Kontexte stehen neben literarischen und historischen Dimensionen von Grenzerfahrungen.
So wertvoll jeder Text für sich selbst ist, so bedauerlich ist die geografische und historische Engführung der ausgewählten Themenbeispiele: so werden Flucht und Immigration ausschließlich im Kontext der Shoah besprochen und nur Erfahrungen in Europa, Israel und den USA finden in dem Buch ihren Widerhall.
Auch in diesem Jahr werden die unterschiedlichen Blicke auf das ausgewählte Thema mit Fotografien ergänzt. Die Arbeiten des israelischen Künstlers Jonas Opperskalski stehen leider ohne nähere Informationen neben den Texten, wodurch ihnen eher ein illustrierender Charakter zukommt als der eines inhaltlichen Beitrags. Trotz allem bleibt der Almanach eine Textsammlung, die verdichtet ein Thema beleuchten, das oftmals nur in akadamisch geschrieben Texten verhandelt wird.


Zur Herausgeberin: Gisela Dachs, geboren 1963, ist Autorin und Journalistin. Von 1987 bis 1989 war sie Auslandsredakteurin der französischen Tageszeitung Libération. Seit 1990 ist sie Korrespondentin für Die Zeit und seit 2014 ebenfalls für die NZZ am Sonntag. Außerdem sind ihre Artikel regelmäßig im jüdischen Monatsmagazin Aufbau, der schweizerischen jüdischen Wochenzeitung tachles und dem österreichischen Magazin Wina zu lesen.
Ihre Artikel und Monografien behandeln die gegenwärtige politische Lage in Israel, das israelisch-palästinensische Verhältnis sowie die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Ihre wichtigsten Schriften sind: "Getrennte Welten. Israelische und palästinensische Lebensgeschichten", Basel 1998, "Deutsche, Israelis und Palästinenser. Ein schwieriges Verhältnis", Heidelberg 1999, "Deutsch-israelische Beziehungen. Eine Zwischenbilanz", München 2009.
Neben der Herausgeberinnenschaft des Jüdischen Almanachs arbeitet Dachs als Referentin für die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Bundeszentrale für politische Bildung, ist seit 2009 Lehrbeauftragte an der "Sammy Ofer School of Communications" in Herzlia, Israel, sowie regelmäßige Interviewpartnerin zum Thema Nahost, unter anderem für den Deutschlandfunk.
Sie lebt in Tel Aviv.

Zum Fotografen: Jonas Opperskalski wurde 1988 in Kaufbeuren in Bayern geboren. Er absolvierte ein Studium an der Danish Schools of Media and Journalism in Aarhus und an der University of Applied Sciences in München. Seine Arbeiten werden in unterschiedlichen Magazinen wie Der Spiegel, Neon, Die Zeit, NZZ, taz, Revue, Fräulein, und zenith abgebildet. Er lebt in Tel Aviv.


Jüdischer Almanach - Grenzen
Herausgegeben von Gisela Dach im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem. Fotografien von Jonas Opperskalski
Mit Beiträgen von Astrid von Busekist, Noah Efron, Zali Gurevich, Peter Jungh, David Newman, Dorit Rabinyian, Natan Sznaider und vielen anderen.
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen Oktober 2015
Broschur, 208 Seiten Seiten
978-3-633-54273-4
16,95 Euro
www.suhrkamp.de

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Weitere Infos unter:

Jüdische Almanache des Leo Baeck Institute (1993-2014):

www.lbi.org

Zur Arbeit von Jonas Opperskalski:
www.jonasopperskalski.com/the-12-million



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Beitrag vom 21.01.2016

Magdalena Herzog