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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 05.06.2016


Julia Kissina im Interview. Buchverlosung
Dorothee Robrecht

Julia Kissina über Kunst, Sex und das coole Moskau der 80er Jahre. Die russische Künstlerin und Schriftstellerin, 1966 in Kiew geboren, lebt seit 2003 in Berlin. Gerade ist ihr Roman "Elephantinas Moskauer Jahre" bei Suhrkamp erschienen. AVIVA verlost 1 Buch




Julia Kissina zählt zu den beliebtesten Autoren/innen der russischen Avantgarde: In den 80er Jahren gehörte sie zum Moskauer Underground: Sie studierte an der dortigen Filmhochschule, schrieb aber gleichzeitig Lyrik und Prosa, die in renommierten Magazinen erschien.
1990, im Alter von 24, ging sie nach München, wo sie Kunst studierte. Einen Namen machte sie sich auch in Deutschland sehr schnell, zunächst nicht als Schriftstellerin, sondern als Künstlerin. Bekannt wurde sie durch performative Photographien, und es heißt, dass ihre "Fleisch-Fotos" es waren, die Lady Gaga zu ihrem legendären Kleid aus Fleischfetzen inspiriert haben.
Als Schriftstellerin trat sie für ein deutsches Publikum erstmals 2005 in Erscheinung - mit Geschichten über die russisch-deutsche Boheme. Der Roman "Elephantinas Moskauer Jahre" ist ihre jüngste Publikation. Schauplatz ist das Moskau der 80er Jahre, damals noch Hauptstadt der Sowjetunion. Die Protagonistin, eine junge Frau, will Dichterin werden und folgt ihrem Guru – einem berühmten Schriftsteller, den sie abgöttisch liebt – nach Moskau. Der Roman erzählt von dieser Liebe und davon, wie es Elephantina ergeht in den männerdominierten Künstlerkreisen der Metropole.

AVIVA-Berlin: Frau Kissina, die Heldin Ihres Romans ist wie Sie in Kiew geboren und dann nach Moskau gegangen, um dort "den Gipfel des Olymp zu erklimmen". Wie Sie bewegt sie sich unter dissidenten Künstler_innen. Ist dieser Roman eine Autobiographie?
Julia Kissina: Natürlich basiert er auch auf persönlichen Erfahrungen, aber ich würde sagen, es ist ein Liebesroman. Letztlich geht es um das Erwachsenwerden. Die Protagonistin lebt in einer totalitären Gesellschaft, aber es ist immer und überall möglich, intensiv, intellektuell aufregend zu leben, in jedem Regime, in jedem Land. Das wird oft übersehen. Wenn es um Russland und Osteuropa geht, dominiert der politisch-verurteilende Blick.

AVIVA-Berlin: Politik spielt in Ihrem Roman durchaus eine Rolle. Immer wieder gibt es kleine Einschübe, die informieren, was grad so los ist in der Welt, während Elephantina, die Heldin, durch Moskau streift. Wir lesen zum Beispiel, dass Gorbachev Regierungschef wurde, als sie "bei der verrückten Nina einzog".
Julia Kissina: Natürlich spielt Politik eine Rolle, aber die Heldin ignoriert sie, so gut es eben geht. Und das war auch für mich damals in Moskau so: Wir waren Underground, was scherte uns, was die Mächtigen machen.

AVIVA-Berlin: Das Cover des Romans zeigt eine sehr schöne junge Frau mit Schnurrbart. Ist das ein feministisches Statement?
Julia Kissina: Die Heldin meines Romans kämpft um ihr Recht, auf gleicher Augenhöhe mit den Männer zu sein. Feminismus? Ja. Das Foto ist eine Arbeit aus meiner Serie "Ich sehe was, was du nicht siehst", das Bild einer rebellischen jungen Dame.



AVIVA-Berlin: Offenbar haben Sie – anders als viele andere Autorinnen der zeitgenössischen russischen Literatur – keine Berührungsängste, was Feminismus angeht.
Julia Kissina: Das hat einfach mit dem negativen Image des Feminismus zu tun, mit der Vorstellung, Feministinnen seien maskuline Frauen.

AVIVA-Berlin: In Ihrem Roman lassen Sie eine Feministin auftreten, die diesem Klischee nicht entspricht: "Ihr Körper", heißt es, "war mit seinen 75 Jahren immer noch schlank und makellos. Sie hatte ihre Jugend in den Zwanzigerjahren verlebt: Alkohol, Zigarettenspitzen, Opium. Noch immer loderte die einstige Schönheit in ihren Gesichtszügen. ... Mit Hingabe sprach sie von Unabhängigkeit und davon, wie im fortschrittlichen Russland der Zwanzigerjahre das Geschlecht abgeschafft wurde."
Julia Kissina: Diese Figur hat ein reales Vorbild. Letztlich ist auch Elephantina, die Heldin des Romans, so frei und souverän, aber sie hat ein Problem: Der Mann, den sie liebt, ihr Guru, behandelt sie und ihre künstlerischen Ambitionen mit gönnerhafter Herablassung.

AVIVA-Berlin: Interessant ist die Reaktion Ihrer Heldin: So sehr sie den Mann auch liebt – sie schläft nicht mit ihm. Sie verweigert Sex, und das ganz grundsätzlich. Elephantinas Asexualität ist ein Motiv, das den ganzen Roman durchzieht. Mal scheint sie beinah stolz, "Sexgegnerin" zu sein, dann wieder schämt sie sich, denn "ich war zu nichts zu gebrauchen: Man konnte nicht mit mir schlafen – ich war eine verbohrte Jungfrau." Sehen Sie Asexualität als Möglichkeit, sich vor Sexismus zu schützen?
Julia Kissina: Im Roman: ja. Ich erinnere mich noch, wie ich damals in die Moskauer Künstlerkreise kam. Das war eine männliche Welt, Macht- und Sexbesessen, ein Haifischbecken, wie in der amerikanischen Serie House of Cards. Sex ist gefährlich, wenn du Respekt und Liebe willst. Deshalb träumt Elephantina im Roman von einer Liebe, die alles Körperliche hinter sich lässt, die darüber erhaben ist.

AVIVA-Berlin: Der Suhrkamp Verlag nennt Ihren Roman einen Schlüsselroman. Entschlüsseln können ihn russische Leser/innen vermutlich leichter als deutsche, die viele der Künstler_innen und Literat_innen, die Vorbild waren für Ihre Figuren, nicht kennen. Der berühmte Dichter, die große Liebe der Elephantina – wird er sich wiedererkennen?
Julia Kissina: Er ist schon gestorben, und ich denke, ich hätte den Roman nicht geschrieben, würde er noch leben.

AVIVA-Berlin: Bei all den Parallelen, die es gibt zwischen Ihrem Leben und dem Ihrer Heldin, fällt auf, dass ein Thema absolut keins ist: Sie sind Jüdin, aber das Wort jüdisch taucht in Ihrem Roman nicht auf. Erstaunlich ist das insofern, als auch viele Mitglieder des Moskauer Underground Juden waren. Und weil die UdSSR Juden diskriminierte und schon im Pass vermerkte, wer Jude war.
Julia Kissina: Ich kann nicht alles in einen Roman quetschen. Es gab Antisemitismus in der Sowjetunion, und er war schlimm, besonders für Kinder. Aber im Underground hat das keine Rolle gespielt. Ich arbeite an einem Buch über Tschernobyler Juden. Hier kennt man Tschernobyl nur wegen der Reaktorkatastrophe, aber früher mal war es eine wichtige chassidische Metropole. Das weiß nur kaum noch jemand.

Mehr Infos unter:

www.juliakissina.de
Die Fotostory zum Roman, " Elephantinas Moskauer Jahre": Elephantinas Moskauer Jahre - eine Fotostory
Die "Fleisch-Fotos" von Julia Kissina, "FAIRIES 1997/98": www.juliakissina.de/fotografie/feen/feen


Julia Kissina
Elephantinas Moskauer Jahre

Roman, Suhrkamp Verlag, erschienen 09.05.2016
Gebunden, 240 Seiten
Erschienen: 09.05.2016
ISBN: 978-3-518-42532-9
22,95 Euro
www.suhrkamp.de


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