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Beitrag vom 30.03.2020
Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Rebecca Solnit: Recollections of My Non-Existence. Verlosung
Bärbel Gerdes
Gleich zwei Neuerscheinungen widmen sich der Unsichtbarmachung von Frauen. Während die Autorin und Rundfunkjournalistin Caroline Criado-Perez eine schier unglaubliche Anzahl von Studien und Artikeln ausgewertet hat, die die Nicht-Existenz von Frauen in der Gesellschaft belegen, lädt die Essayistin Rebecca Solnit die Leserin in ihr Leben ein und beschreibt, wie sie wurde, welche sie heute ist. AVIVA-Berlin verlost 3 Bücher
Es gibt unzählige Beispiele, doch so geballt und in einem Band versammelt, hat sicherlich keine das Ausmaß betrachten können, in dem Frauen in unserer Gesellschaft inexistent sind.
Wir kennen die Ungleichheit der Gehälter und wissen (nach langer, langer Zeit), dass die Anzeichen eines Herzinfarktes bei Frauen andere sind als bei Männern. Uns ist bekannt, dass dies unzähligen Frauen das Leben kostet – genauso wie der Autositz mit dem Sicherheitsgurt, der nicht auf die Größe von Frauen abgestimmt ist, genauso wie die Medikation, die nicht dem Stoffwechsel von Frauen entspricht.
Doch das Lesen dieses so wichtigen Buches von Caroline Criado-Perez macht etwas anderes: es verschiebt tatsächlich die Perspektive, es öffnet das Bewusstsein selbst dann, wenn frau denkt, sich dieses "Themas" schon sehr bewusst zu sein. Es sensibilisiert und rüttelt die etwas dahindämmernde Wut (ein Widerspruch in sich?) wach.
Beginnen wir zum Beispiel hiermit: Stadtplanung. Unzählige Untersuchungen ergeben, dass Frauen sich anders in einer Stadt fortbewegen als Männer, resultierend daraus, dass sie immer noch zu einem überwältigenden Teil für die Care-Arbeit zuständig sind. Sie verlassen das Haus, bringen das Kind zur Schule, fahren zur Arbeit, gehen einkaufen, holen das Kind ab, bringen es zum Sport, fahren nach Hause, holen das Kind ab. Männer hingegenlegen meist recht einfache Wege zurück. Sie fahren morgens in die Stadt hinein und abends wieder heraus. Frauen gehen weitaus häufiger zu Fuß oder/und benutzen öffentliche Verkehrsmittel, während Männer zumeist mit dem Auto fahren.
Städte jedoch sind oft so angelegt, dass Hauptverkehrsstraßen strahlenförmig ins Zentrum führen. Rundstrecken gibt es weitaus weniger. Bei Verkehrskonzepten und Stadtplanung spielt die "Mobilität in Bezug auf Arbeitsplätze" eine herausragende Rolle. Die Wege, die Frauen zurücklegen müssen, werden nicht berücksichtigt. Da dies auch nicht im öffentlichen Nahverkehr erfolgt, müssen Frauen sehr viel mehr Zeit für ihre Wege einplanen (Umsteigen, auf Anschlüsse warten, längere Strecken zu Fuß gehen).
Ein weiteres Beispiel: Toiletten. Uni-Sex-Toiletten werden als großer Akt der Gleichberechtigung und als "anti-diskriminierend" gefeiert. Es gibt die Toiletten mit Urinal und diejenigen ohne, was zur Folge hat, dass ausschließlich Männer erstere benutzen, letztere jedoch von beiden genutzt werden.
Die Raumgröße in öffentlichen Toiletten gilt für beide Geschlechter gleichermaßen. In Herrentoiletten gibt es jedoch besagte Urinale, so dass mehr Männer in der Lage sind, gleichzeitig ihre Blase zu entleeren. In Damentoiletten finden weniger Frauen Platz. Frauen benötigen auf Toiletten etwa 2,3-mal so viel Zeit. Nein, nicht weil sie herumbummeln, sondern weil solch ein Toilettengang sich von dem der Männer unterscheidet. Zudem werden Frauen weitaus häufiger von Kindern begleitet.
Da der Prototyp allen Seins jedoch der Mann ist, werden die Bedürfnisse von Frauen nicht beachtet (übrigens auch nicht das Bedürfnis, absolut kein Interesse zu haben, mit Männern Toiletten zu teilen – Anm. d. Rezensentin).
Lange Schlangen vor Toiletten erscheinen jedoch als Luxusproblem, wenn wir bedenken, dass eine von drei Frauen weltweit keinen Zugang zu sicheren Toiletten hat. Während es als Selbstverständlichkeit angesehen wird, dass Männer sich überall erleichtern können, müssen Frauen oftmals lange Wege gehen, um diese Möglichkeit zu haben. Eine Studie der Yale Universität konnte in einem Rechenmodell das Risiko sexueller Übergriffe mit der Zahl sanitärer Einrichtungen und der Wegstrecke, die eine Frau bis zur nächsten Toilette zurücklegen muss verbinden.
In unzähligen Beispielen belegt Criado-Perez diese Unsichtbarkeit von Frauen und ihrer Bedürfnisse. Sie analysiert vollkommen unterschiedliche Lebensbereiche und kommt immer wieder zu demselben Schluss: Frauen kommen nicht vor.
Halt! Das stimmt nicht ganz! Da alles Männliche universell ist, muss es nicht ausdrücklich benannt werden. Das Weibliche, das Andere jedoch schon. In allen Medien wird beispielsweise von der Fußballnationalmannschaft gesprochen – daneben gibt es, so sie denn überhaupt erwähnt wird, die Frauenfußballnationalmannschaft (was natürlich ein Oxymoron ist).
Noch 2013 teilte Wikipedia US-SchriftstellerInnen in Amerikanische Schriftsteller und Weibliche amerikanische Schriftsteller ein. Frauen fühlen sich nicht von Stellenanzeigen angesprochen, wenn die Berufsbezeichnung rein männlich ist, selbst wenn Frauen explizit aufgefordert werden, sich zu bewerben oder wenn hinter der Bezeichnung m/w steht.
Criado-Perez legt dar, dass in dieser datensüchtigen Welt Daten von Frauen nicht erhoben werden, weder wenn es um die Größe eines Standardhandys geht noch bei der Schutzausrüstung für Polizistinnen. Dies wird auch KI, also Künstliche Intelligenz, nicht ändern – im Gegenteil. Da die Systeme mit über Männer erhobenen Daten gefüttert werden, sind auch hier die Bedürfnisse und Notwendigkeiten von Frauen außen vor – eine beängstigende Zukunftsaussicht.
Und natürlich thematisiert die Autorin auch Gewalt und ihre Darstellung. Geht es in der Sozialanthropologie um primitive Gesellschaften, so wird das Geschlecht weder thematisiert noch gedacht. Es seien Menschen, die töten und die im Laufe ihrer Entwicklung sechsmal tödlicher für ihre eigene Spezies wurden als das durchschnittliche Säugetier. Ungefähr neun von zehn Morden werden von Männern verübt. Criado-Perez fragt: Wenn die menschliche Evolution von Männern vorangetrieben wird – sind Frauen dann überhaupt Menschen?
Auch Rebecca Solnit fragt in ihrem neuen, autobiographischen Buch Recollections of My Non-Existence (ausführliche Besprechung folgt) nach ihrer Existenz oder Nicht-Existenz. Und sie wäre nicht Rebecca Solnit, ginge ihr Bericht nicht über das eigene Ich hinaus, hin zu den Leben von Frauen insgesamt.
Mit neunzehn Jahren zieht Solnit nach San Francisco und merkt, dass sie sich erst kennenlernen muss, sich entwickeln, sich vorstellen, welche sie denn überhaupt sein und werden will.
Dieser Entdeckungsreise werden Grenzen gezogen: durch männliche Gewalt, durch das Unsichtbarmachen von Frauen, dadurch, dass die Stadt Männern gehört. Es ist ihr eben nicht möglich, das Haus zu verlassen, ohne dass Männer sie mit Blicken, mit Händen, mit Sprüchen verfolgen. Der öffentliche Raum ist besetzt. Frauen werden stumm gemacht – doch hatten sie / hatte sie überhaupt eine eigene Stimme, die verstummen konnte?
Faszinierend und berührend ist Solnits Kampf um ein unabhängiges, zufriedenes und selbstbestimmtes Leben, das sichtbar sein will.
AVIVA-Tipp Caroline Criado-Perez hat mit Unsichtbare Frauen die Datenlücke, die das Leben von Frauen umgibt, sichtbar gemacht. Es ist eine die Leserin verändernde Lektüre und ein Buch, das Pflichtlektüre für alle sein sollte.
Zur Autorin: Caroline Criado-Perez wurde 1984 in Brasilien geboren und lebte in ihrer Kindheit unter anderem in den Niederlanden, Portugal und Taiwan. Sie studierte Englische Sprache und Literatur in Oxford. Die Autorin, Rundfunkjournalistin und Aktivistin, die unter anderem für den New Statesmen schreibt, lancierte unterschiedliche Kampagnen, darunter der Abdruck einer Frau auf britischen Banknoten, die Verpflichtung von Twitter zur Änderung seines Umgangs mit Missbrauch und die Aufstellung einer Statue der Frauenrechtlerin Millicent Fawcett auf dem Parliament Square. 2013 wurde sie zum Human Rights Watch Campaigner of the Year ernannt. 2015 wurde sie als Officer of the Order of the British Empire (OBE) ausgezeichnet. Caroline Criado-Perez ist Mitbegründerin der Plattform The Women´s Room: www.thewomensroom.org.uk Sie lebt in London.
Mehr zur Autorin: Caroline Criado-Perez unter: www.carolinecriadoperez.com
Zur Übersetzerin: Stephanie Singh, geboren 1975, studierte in Tübingen, Straßburg und München Literaturwissenschaften und Philosophie. Nach der der Promotion absolvierte sie ein Volontariat zur Verlagsredakteurin. Sie arbeitet als freie Übersetzerin für Englisch und Französisch und hat unter anderem Elisabeth Badinter, Michel Onfray, Stephane Courtois und James Patterson übersetzt. Sie lebt in München.
Mehr zur Ãœbersetzerin Stephanie Singh unter: www.xing.com
Caroline Criado-Perez
Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert
Originaltitel: Invisible Women
Aus dem Englischen von Stephanie Singh.
Btb Verlag, erschienen am 10. Februar 2020
496 S., Paperback, Klappenbroschur
ISBN 978-3-442-71887-0
15,00 €
Mehr zum Buch: www.randomhouse.de
Rebecca Solnit: Recollections of My Non-Existence
Granta Publications, erschienen am 5. März 2020
256 S., gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-1783785445
Ca. 13,00 €
Mehr zum Buch: granta.com
AVIVA-Berlin verlost 3 Exemplare des Buchs "Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert" von Caroline Criado-Perez. Bitte senden Sie uns dazu bis zum 31.05.2020 per Email an: info@aviva-berlin.de den Namen des Genderreports in der Buchbranche.
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