Interview mit Miss.Tic – deutsche Version - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 30.06.2011


Interview mit Miss.Tic – deutsche Version
A.Vartanian, K. Tencic

Auf den Ausläufern der Pariser Mauern von Montmartre bis Menilmontant stößt frau seit einem Vierteljahrhundert auf unabhängige und sexy Frauen, begleitet von Aphorismen und faszinierenden Wortspielen




Das sind die Viertel, wo Miss.Tic, die bekannteste Street Art Künstlerin Frankreichs, bereits zum Stadtbild gehört. Obgleich "die schöne Rebellin" Gerichtsverfahren hinter sich hat, wandert sie nun, begleitet von breitem Erfolg, von einer schicken Galerie zur nächsten, ohne aber etwas von ihrem Verve, ihrer Scharfzüngigkeit und der schönen Bissigkeit der Poesie der Begierden auf der Strecke zu lassen.

AVIVA-Berlin hat sie in ihrem Atelier besucht, wo sie gerade ihre Ausstellung für das Institut Français in Berlin vorbereitet hat.


AVIVA-Berlin: Können Sie uns etwas über den Ursprung Ihres seit 1985 existierenden Künstlernamen Miss.Tic sagen?
MISS.Tic: Das ist eine Anspielung auf Gundel Gaukeley [im Franzöischen Miss Tick, Anm.d.Red.], eine kleine durchgeknallte Hexe, die um jeden Preis versucht, ihrem Onkel Dagobert seine Geldgier auszutreiben und ihm etwas zu stibitzen, jedoch ohne Erfolg. Für mich war es aber auch wichtig, der Öffentlichkeit zu signalisieren, dass es eine Frau ist, die sich da in dieser vollkommen maskulinen Welt der Street Art zu Wort meldet, eine Frau, die der Autor all dieser Graffitis ist, die man da auf den Mauern von Paris aufblitzen sah.

AVIVA-Berlin: Anfangs erschufen Sie Ihre Graffitis in der verdeckten Illegalität der Nacht, ohne Genehmigung der Eigentümer der Mauern oder der Gebäude, auf denen Sie sie postierten. Sie wurden verhaftet, unter Gewahrsam gestellt, hatten Gerichtsprozesse ... nach diesen schlechten Erfahrungen mit der Justiz haben Sie beschlossen, nur unter Erlaubnis zu arbeiten. Sie erhielten aber auch Aufträge von Marken wie Louis Vuitton, UCAR oder Longchamp für Werbekampagnen. Außerdem haben Sie das Plakat für den Film "La femme coupée en deux (dt: Die zweigeteilte Frau") von Claude Chabrol entworfen und stellen heutzutage regelmäßig in Galerien aus. Welche Veränderungen haben Ihre Arbeiten durch den Übergang von dieser einen in die andere Welt erfahren?
MISS.TIC: Diese Werbeaufträge hatte ich schon viel früher erhalten, also vor der 1997 erhobenen Anklage eines Gebäudeeigentümers. Das, was sich verändert hat, ist die Arbeit in den Straßen. Ich habe damals angefangen, Erlaubnisse einzuholen, habe öffentliche Aufträge der Stadtverwaltung erhalten und war dadurch nicht mehr gezwungen, nachts zu arbeiten. Dadurch ist es sehr viel einfacher für mich geworden. Vorher mussten manche Arbeiten unvollendet bleiben, ich konnte gestört oder verhaftet werden, die Leute konnten auf mich losgehen, selbst wenn ich immer in Begleitung von jemandem war, der die Schablonen halten musste. Es war wirklich schwierig für mich, bis zwei oder drei Uhr nachts zu warten um raus, arbeiten zu gehen, manchmal fehlte mir wirklich die Energie dazu. Ich habe nie versucht, mich gegen ein repressives System zu richten, oder gegen Institutionen, auch nicht gegen das System der Galerien. Ganz im Gegenteil – ich wusste, dass ich meine Ateliersarbeiten an Fachmänner/frauen richte, indem ich sie auf die Straße bringe.

AVIVA-Berlin: Die Rechtswidrigkeit beförderte keine spezielle Richtung in Ihren Aussagen, Ihren Schriften, Ihren Bildern?
MISS.TIC: In meiner visuellen und ästhetischen Sichtweise hat sich nichts verändert. Ich mache absolut das Gleiche. Alles wird schon vorher gefertigt, im Atelier. Wenn ich die Arbeiten dann in den Straßen anbringe, ist das Werk bereits vollendet: das Publikum kann nicht sehen, ob es gestattet wurde oder nicht.

© Aurélia Vartanian, Des faims de non recevoir, dans l´atelier de Miss.Tic


AVIVA-Berlin: Haben Sie eine Ahnung, woher Ihr Talent für die würzigen Sprüche und Ihre Lust an der Provokation stammt?
MISS.TIC: Die Schrift und das Zeichnen wurden mir bereits in die Wiege gelegt. Von da an ist es natürlich harte Arbeit. Ich wollte Tänzerin werden, aber ich hatte einen Unfall und konnte somit keine Tänzerin sein, also habe ich mich dem Theater gewidmet. Entweder habe ich Theater gemacht oder geschrieben. Mein Traum war es, ein künstlerisches Medium zu haben, Künstlerin zu sein und meinen Talenten zu folgen. Bezüglich der Provokation denke ich, dass es die Rolle der KünstlerInnen ist, die Gegenwart zu hinterfragen. Aber ich bin keine Aktivistin, ich glaube nicht, dass die Poesie die Welt verändern kann. Ich verteidige nichts außer "die Energien des Lebens". Die Leute erreichen ein Bewusstsein dank kleiner Dinge die aufeinander folgen.

AVIVA-Berlin: In Ihrer Serie Miss.Tic attak ist die dargestellte Frau eine Kriegerin, bis auf die Zähne bewaffnet. Die üblichen Waffen (schicke Dessous, erotische Posen, verführerische Blicke, "Fallen" für die männlichen Begierden) wurden hier ersetzt durch eine Ausrüstung, die einer Pistole, einen Dolch, einen Säbel oder die nackte Hand der Kriegskunst, bis hin zu einer Zeitbombe. Ist die sinnliche Frau der Archetyp einer klassischen Weiblichkeit, während die bewaffnete Frau somit ein Archetyp der Männlichkeit wäre?
MISS.TIC: Mann oder Frau – wir haben absolut die gleiche Gewalttätigkeit in uns. Der Zustand der Gewalt ist keine Frage des Geschlechts. Ich habe mich für die bewaffneten Frauen interessiert, für die Iconographie der Kriegerinnen in amerikanischen Comics, und ich wollte sie in meiner Arbeit wiederaufnehmen. Aber ich bin keine Theoretikerin, ich habe keine psychoanalytischen Beweise vorzuführen, ich habe darüber nichts zu sagen, wenn es nicht gar an ihnen ist, zu zeigen, was ich mache.

© Aurélia Vartanian, Femme de l´être en compagnie de Gainsbourg, dans l´atelier de Miss.Tic


AVIVA-Berlin: Einerseits sind in Ihren Schablonenbildern Ihre Texte, Ihre Phrasen, oft fragend, erleuchtend, frech. Andererseits diese Frauenfiguren: bewaffnete Frauen, Frauen, die mit ihrem Charme spielen... Vereinzelt auch Männer, Katzen, Pärchen, mittlerweile immer häufiger. Wie geht die Kombination und erneute Vereinigung zwischen Text und Bild in Ihrer Arbeit vonstatten?
MISS.TIC: Zuerst schreibe ich, dann fabriziere ich die Bilder, dann stelle ich die Schablonen nach deren Assoziationen zusammen. Am Anfang wusste ich nicht, wie ich meine Texte illustrieren sollte, ich habe Autoporträts verwendet, die mich aber sehr schnell langweilten. Also habe ich beschlossen, mich von den Bildern der Frauen in den Magazinen, Modemagazinen, inspirieren zu lassen, um meinen Diskurs zu unterstreichen. Das sind schon existierende Bilder, die ich zweckentfremde. Und dann verwende ich mich auch selbst wieder, ich setzte mich abermals in einen anderen Kontext. Die Bedeutung der Graffitis wandelt sich je nach dem welchen Text man mit welcher Figur oder Pose zusammenbringt.

AVIVA-Berlin: Ist Ihre anfängliche Entscheidung, Graffitikunst zu praktizieren, an ein starkes Verlangen gebunden, sich direkt mit dem Publikum auseinanderzusetzen, ohne zu warten und ohne den "Kampfparcours" der Galerien zu bestreiten?
MISS.TIC: Die Pariser Bewegung der Street Art hat da angefangen und ich habe die anderen KünstlerInnen in den Straßen arbeiten sehen. Ich selbst habe Straßentheater gemacht. Das Verhältnis mit der Öffentlichkeit hat mir sehr gefallen und ich habe mich mit dieser Vorgehensweise der StreetArtists identifiziert, das Arbeiten unter freiem Himmel und für jedermann/frau.

AVIVA-Berlin: Geistern in Paris für Sie überall Ihre realisierten, verschwundenen oder verbliebenen Grafftits herum?
MISS.TIC: Einmal angebracht, verlassen meine Schablonenbilder etwas, sie haben ihr eigenes Leben. Manchmal habe ich sie vergessen, und andere wiederum sind immer noch dort, und ich bin überrascht sie wiederzusehen.

AVIVA-Berlin: Wissen Sie, wie viele Graffitis Sie realisiert haben?
MISS.TIC: Nein, ganz und gar nicht.

AVIVA-Berlin: Eine beindruckende Anzahl?
MISS.TIC: Das glaube ich doch! Ich habe bisher noch keinen Erinnerungskatalog erstellt ... das kommt irgendwann!

AVIVA-Berlin: Eine Miss.Tic auf einer abblätternden Wand, das in ein paar Monaten oder Jahren verschwindet, und ein eingerahmtes Miss.Tic, das an einer Galeriewand hängt: Welchen Wert bemessen Sie diesen beiden Formen? Werden Ihre Graffitis von den Leuten als "kostenloser Akt" wahrgenommen?
MISS.TIC: Die in den Straßen sind nicht beanspruchbar: somit ist keine Preisspekulation, sondern nur die Repräsentation durch die Photographie möglich. Ich glaube, im Endeffekt sehen die Menschen sie als kostenlose Kunst an. Die Werke aus dem Atelier hingegen sind verkäuflich, und mit der Zeit gewinnen sie an Wert. Auf der Ebene der Kreation, der Intention, bleiben sie hingegen von gleichem Wert für mich.

AVIVA-Berlin: Die Transparenz, die Lesbarkeit, ist sie für Sie ein Gebot? Wie erleben Sie den Fakt des Verstanden-Werdens in einer anderen Sprache, aber auch der potentiellen Unübersetzbarkeit?
MISS.TIC: Nicht alles ist übersetzbar. Manche Dinge sind einfach für die französische Sprache gemacht. Ich versuche nicht, mich für alle verständlich zu machen, weder in einer anderen, noch in meiner eigenen Sprache. Es ist normal, dass die Leute nicht alles verstehen. Ich lasse den Leuten ihre Vorstellungskraft, ihre Interpretationskunst, und ihre Möglichkeit zu Kommentaren ... das, was sie verstehen, von dem was ich sagen wollte, vereint sich somit. Wenn der/die AutorIn sein/ihr Buch geschrieben hat, machen die Leute dann damit auch was sie wollen. Das ist die Macht der Lektüre.

© Aurélia Vartanian, signature de l´artiste, dans l´atelier de Miss.Tic


AVIVA-Berlin: Fühlen Sie sich mit Ihren Schriften der Slamszene verbunden?
MISS.TIC: Bereits in den 70er Jahren in Saint-Germain des Prés waren die Cabartes schon in Mode, wo der Gesang von Gitarren begleitet wurde, oder man Texte las. Seit etwa zehn Jahren spricht man nun von Slam, aber für mich hat es das schon immer gegeben! Und in der Tat höre ich somit auch immer das, was ich da schreibe. Mit meinem letzterschienenen kleinen Büchlein, in dem ich längere Texte vorstelle, bestreite ich Lesungen auf Büchermessen. Für mich ist das Lesen der Texte eine Praxis, die sehr viel älter ist als der Slam, das sind wirklich die 70er Jahre.

AVIVA-Berlin: Der Begriff der Positionierung ist sehr fundamental in Ihrer Arbeit. Körperpositionen, wie begehrlich, lebendig oder kämpferisch, politische Positionierung, wie apolitisch, poetisch oder künstlerisch. Finden Sie diese Körperposen ausschließlich in den Magazinen oder beobachten Sie sie auch manchmal in Ihrer Umwelt?
MISS.TIC: Ich mache nie irgendwelche Skizzen wenn ich mit Leuten zusammen bin, ich notiere nie etwas, Sie werden mich nie sehen, wie ich einen Gedankenblitz habe und ein Heft raushole! Für mich ist das Arbeitsleben und die Zeit um zu leben vollkommen getrennt voneinander. Übergänge existieren, aber sie sind unbewusst. Ich mag es, Fotos zu machen, aber ich hole niemals meinen Fotoapparat raus wenn ich mit Freunden zusammen bin, oder auf Reisen. Oder eben wenn ich mich zu einer Reise entschließe, in der ich Fotos mache. In diesem Falle habe ich das Gefühl, mich vollkommen vom Leben abzuschneiden.

AVIVA-Berlin: Was sind Ihre Träume als Künstlerin?
MISS.TIC: Ich habe meinen Künstlertraum verwirklicht. Ich habe meinen Platz im Leben gefunden. Ich bin wirklich glücklich. Ich lebe von dem was ich liebe, in einem Land, in dem es noch möglich ist, sich frei auszudrücken. Hoffentlich bleibt das auch so.

AVIVA-Berlin: Wenn Sie zur Präsidentin gewählt würden...? [Während jeder Präsidentschaftswahl postiert Miss.Tic in den Straßen von Paris ihre humoristischen Bilder mit dem Slogan "Miss.Tic Präsidentin", Anm.d.Rd.]
MISS.TIC: Man bewahre mich davor! Das ist ein Posten, den ich für nichts in der Welt wollen würde!

AVIVA-Berlin: Gibt es, international gesehen, mythische Orte, an denen Sie sich gern äußern würden, wie etwa auf der Berliner Mauer?
MISS.TIC: Nein, weil jede/r das schon macht. Alle KünstlerInnen haben schon die Chinesische Mauer oder die von Gaza angepinselt. Ich finde es außerdem überhaupt nicht ethisch vertretbar, seine Bilder dort auf der Mauer von Gaza anzukleben, nur damit man über einen spricht. Ich verweigere es, aus der Misere anderer und dem Krieg anderer eine Quelle für meinen Kommerz zu machen. Ich verachte dieses Gutmenschentum.

AVIVA-Berlin: Ist Ihr Werk lacanisch?
MISS.TIC: Ich mag es sehr über die Psychoanalyse zu lesen, ohne sie selbst zu praktizieren. Lacan amüsiert mich, er ist ein Genie, er ist der Artaud des Denkens. Ich liebe es ihn zu lesen. Ansonsten sind es die Surrealisten/innen, die mich inspirierten und vor allem Henri Michaux.

© Aurélia Vartanian, Je ne brise pas que les coeurs, sous entendu "je brise aussi les couilles" ajoute Miss.Tic



AVIVA-Berlin: Können Sie uns zum Abschluss spontan drei Ihrer Grafitti-Sprüche zitieren?
MISS.TIC: Also: Je ferai jolie sur les trottoirs de l´histoire de l´art. Aber ich mag auch diesen hier: Je ne brise pas que les cœurs. Und der dritte wäre... art du désir ardu désir!

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview und viel Glück für Ihre Ausstellung im Institut Français in Berlin!

Miss.Tic im Netz: www.missticinparis.com

BOMB IT Miss.Tic. Ausstellung vom 30. Juni bis 18. September 2011 im Institut Français Berlin

Lesen Sie die französische Version dieses Interviews auf AVIVA-Berlin


Interviews

Beitrag vom 30.06.2011

AVIVA-Redaktion