Die Fremde - Ein Film von Feo Aladag - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 17.02.2010


Die Fremde - Ein Film von Feo Aladag
Lisa Erdmann

Eine Geschichte, so real, dass frau Gänsehaut bekommt - Regisseurin Feo Aladag gelingt mit ihrem Debüt "Die Fremde" ein erschütterndes Kulturen- und Familienportrait, das ganz ohne Klischees und...




... erhobenen Zeigefinger, dafür aber mit jeder Menge Brisanz und Authentizität die ZuschauerInnen unweigerlich in seinen Bann zieht.

Die 25-Jährige Deutschtürkin Umay (Sibel Kekilli) wünscht sich sehnlichst, was für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit ist: Sie will ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben führen und sie möchte, dass ihr kleiner Sohn Cem (Nizam Schiller) behütet und ohne Gewalt aufwächst. Doch für die in einem Vorort Istanbuls lebende junge Frau scheint die Erfüllung ihres Wunsches schier unmöglich, denn ihr Alltag ist von Unterdrückung und Angst geprägt. Immer wieder verliert ihr Ehemann Kemal (Ufuk Bayraktar) die Kontrolle, schlägt seine Frau oder bestraft seinen kleinen Sohn.

Um aus der patriarchalischen Ehehölle auszubrechen und endlich frei zu sein, beschließt Umay zu fliehen. Sie packt ihre wenigen Sachen und die ihres Sohnes und reist ohne Rückflugticket nach Berlin, zu ihren Eltern. Umay will in Deutschland leben, Cem soll hier aufwachsen. Doch Umays Familie, besonders ihr Vater Kader (Settar Tanriöðen) und ihr älterer Bruder Mehmet (Tamer Yigit) sind über die Entscheidung Umays schockiert und sorgen sich um die Ehre der Familie. Schließlich ist es die Aufgabe der Männer, die Familienehre zu bewahren - eine Frau gehört dabei an die Seite ihres Mannes und sonst nirgendwohin. Einzig ihr jüngerer Bruder Acar (Serhad Can) hält noch zu seiner geliebten Schwester und versucht, diese zu beschützen.

Die junge Mutter versucht verzweifelt, ihren Vater zu überzeugen: "Er schlägt mich". Doch die bittere Antwort des Familienoberhaupts trifft die junge Frau wie ein Schlag in die Magengegend: "Er ist dein Ehemann, heute schlägt er, morgen streichelt er." Auch Umays Mutter Halime (Derya Alabora) ist überfordert und rät ihrem ältesten Kind: "Hör auf zu träumen!".

Umay erkennt, dass ihre Eltern und Geschwister ihre gesellschaftlichen Zwänge nicht ablegen können. Als die patriarchale Familie zur Rettung der Ehre beschließt, Cem zu seinem Vater in die Türkei zurückzuschicken, da er ansonsten "zu einem Bastard" würde, ergreift die 25-Jährige erneut die Flucht. Sie kommt zuerst in einem Frauenhaus, dann bei einer Freundin unter. Umay bemüht sich, für sich und ihren Sohn ein neues Leben aufzubauen.

Obwohl sie endlich auf eigenen Beinen steht, kann sie doch nicht richtig glücklich sein. Schmerzlich vermisst sie ihre Familie. Immer wieder sucht sie die Versöhnung und kämpft um die Liebe ihrer Eltern. Diese haben jedoch mit ihrer Tochter bereits abgeschlossen, zu viel Schmach und Schande hat sie ihnen bereitet. Auch Gül (Nursel Köse), die Chefin Umays, kann beim Gespräch mit Kader und Halime nichts bewirken.

"Wenn sich deine Eltern entscheiden müssen zwischen dir und der Gesellschaft - sie werden sich nicht für dich entscheiden."

Auch Umays Geschwister lehnen den Kontakt zu ihr ab, Acar aus Angst, Rana und Mehmet aus Wut. Als sie ihren jüngeren Bruder eines Tages auf der Straße wiedertrifft, ahnt sie nicht, dass dieses Wiedersehen folgenschwer enden wird.

Die 1980 in Heilbronn geborene Sibel Kekilli spielt die Rolle der Umay so authentisch und sensibel, als wäre es ihre eigene Geschichte. Dank ihres schauspielerischen Talents gibt sie der Protagonistin ein Gesicht, das die Zuschauerin so schnell nicht vergessen kann. Ihre verzweifelten Tränen und schmerzerfüllten Schreie, ihre Wut und ihre Trauer gehen der Beobachterin durch Mark und Knochen und lassen dem Publikum den Atem stocken.

Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Feo Aladag ist mit "Die Fremde" ein Film gelungen, der das Potenzial hat, die Gesellschaft aufzurütteln. Sie selbst nennt ihr Debüt "ein Destillat des Konfliktes", "eine emotionale, authentische, aber eben auch universelle Geschichte" und genauso kann "Die Fremde" auch vom Publikum empfunden werden. Die Zwänge, die Zerrissenheit und die große Tragik der einzelnen Figuren werden von der Zuschauerin auch ohne lange Dialoge nachempfunden. Das Schicksal Umays erscheint beispielhaft.

Feo Aladag gibt aber mit ihrem Erstlingswerk auch ein klares Statement ab: Ehrenmord und Zwangsheirat dürfen nicht als Europaferne Themen abgetan werden. Jährlich werden nach einer Studie des UN-Weltbevölkerungsberichts ca. 5.000 Mädchen und Frauen in mindestens 14 Ländern, darunter Pakistan, Jordanien und die Türkei, im Namen der Ehre ermordet. Auch in Europa gibt es Gewalt im Namen der Ehre. Besonders häufig betroffen sind Mädchen und Frauen aus Familien mit Migrationshintergrund. Einerseits stehen sie sehr unter Druck, dem patriarchalen Rollenverständnis ihrer Familien gerecht zu werden. Andererseits haben sie den Wunsch, ein gleichberechtigtes Leben zu führen. Allein in Deutschland haben sich seit dem Jahr 2004 bei dem Verein TERRE DES FEMMES mehr als 600 Betroffene gemeldet, die bedroht werden, weil sie die Ehre der Familie angeblich verletzt haben.

AVIVA-Tipp: Das filmische Drama "Die Fremde" lebt von einem immer wieder aufglimmenden Hoffnungsschimmer. Im Zentrum steht die Annäherung, die sich dann doch als verpasste Chance auflöst. Die Zuschauerin hofft und leidet mit der Protagonistin, ist sprachlos, gelähmt und immer wieder traurig berührt. Was nach dem Seherlebnis bleibt, ist ein dicker Kloß im Hals.

Umay, die Fremde, eine Migrantin in ihrem Geburtsland und eine Außenseiterin in der Türkei, erscheint weder exotisch noch fiktiv, sondern dank Sibel Kekillis feinfühliger Darstellung nahezu allgegenwärtig. Dass ihre Suche nach sich selbst und dem Gefühl der Heimat so gnadenlos scheitert, bewegt tief und nachhaltig. Und auch wenn "die Fremde" laut Feo Aladag "kein repräsentatives Porträt einer gesellschaftlichen Gruppe und auch keine Lebensanleitung" sein will, öffnet der Film doch die Augen für eine Chance, eine Möglichkeit zu leben, die durchaus spürbar ist.

"Die Fremde" von Feo Aladag - ein äußerst wertvoller Film, ein Wachrüttler, der unbedingt gesehen werden muss!


Die Fremde
Deutschland 2010
Buch und Regie: Feo Aladag
DarstellerInnen: Sibel Kekilli, Settar Tanriöðen, Derya Alabora, Florian Lukas, Tamer Yigit, Serhad Can, Almila Bagriacik, Alwara Höfels, Nursel Köse, Nizam Schiller, Ufuk Bayraktar u.a.
Verleih: Majestic
Lauflänge: 119 Minuten
Kinostart: 11. März 2010
Der Film im Netz: www.diefremde.de




Kultur

Beitrag vom 17.02.2010

Lisa Erdmann