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Beitrag vom 05.10.2004
Die kalte See
Anne Winkel
Gefrorener Fisch, Familiengeheimnisse, Gewalt und Humor. Ein Dorf kämpft mit den Anforderungen moderner Industrie. Der isländische Film besticht mit spanischem Temperament. Kinostart: 7.10.2004
Thórdur (Gunnar Eyjlólfsson) betreibt eine Fischfabrik in einem kleinen isländischen Ort. Das Unternehmen steckt zunehmend in der Krise, dennoch weigert sich der patriarchalische Eigentümer, sein Lebenswerk zu verkaufen. Statt dessen hofft er auf seine drei Kinder Haraldur (Sigurdur Skúlason), Rangheidur (Gudrún S. Gísladóttir) und Ágúst (Hilmir Snær Gudnason). Die Geschwister haben aber eigene Lebenspläne und wenig Interesse, sich der rückständigen Fischverarbeitung zu widmen. Je unnachgiebiger Thórdur auf die Bedeutung der Fabrik für das Überleben des ganzen Dorfes pocht, desto deutlicher wird, dass die Ablehnung seiner Kinder aus mehr als einer konträren Sichtweise der Zukunft resultiert...
Doch nicht nur die archaische Fischfabrik bereitet der Familie Sorge. Háraldúr muss sich mit der stets betrunkenen Ehefrau Aslaug (Elva Ósk Ólafsdóttir) und drei wenig autoritätsgefügigen Kindern herumschlagen, Ágúst und seine schwangere Freundin Francoise stecken in einer Beziehungskrise, Rangheidur kämpft um die Anerkennung ihres Vaters.
Die Diskussion um die Marktfähigkeit einer kleinen Fischfabrik im Zeitalter der Massenproduktion offenbart die Gegensätze zwischen Tradition und Moderne, Vergangenheit und Zukunft, Island und Europa. Spürbar ist dieser Gegensatz aber auch außerhalb der Fabrik. Im Dorf werden Pizzakartons (mit der Aufschrift "Make Pizza not War") auch bei 50m Anfahrtsweg mit dem Auto ausgeliefert, während Rangheidurs norwegischer Gatte bereits mit der Entscheidung zwischen kleiner, mittlerer oder großer Cola völlig überfordert ist.
"Die kalte See" zeichnet sich aus durch eine geschickte Verzahnung von Komik und Tragik. Die stetig spürbare familiäre Spannung, gebunden an zunehmende (Zerstörungs-)Wut und Gewaltbereitschaft wird sarkastisch untergraben von den skurrilen Handlungen und Reden einzelner Personen. Hervorzuheben ist insbesondere Oma Kata (Herdís Thorvaldsdóttir), deren größter Fehler (nach eigener Einschätzung) darin besteht, "erst so spät mit dem Rauchen" angefangen zu haben. Bewaffnet mit dicken Kopfhörern, Haarnetz, Zigarette und Cognac weiß die etwas klapperige, aber keinesfalls senile Frau die Schwiegertochter zu piesacken und ihre ganz eigenen Ansichten zum gewandelten Deutschland kundzutun. Aber auch der einen Schafbock verfolgende Dorfpolizist, der für einen Blick auf zwei Brüste (eine wäre dann doch zu wenig) schon mal einen Strafzettel fallen lässt, sowie Rangheidurs Eminem-Verschnitt-Sohn mit unbeschreiblichem Froschblick sorgen für lachende ZuschauerInnen.
Der Regisseur Baltasar Kormákur hat seinem Filmteam viel abverlangt. Wie Áslaug-Darstellerin Elva Ósk Ólafsdóttir nach der Berlin Premiere von "Die kalte See" verrät, wurde die gesamte Crew bis an ihre äußerste Grenze getrieben. Ólafsdóttir führt diese Ausreizung aller schauspielerischen Ressourcen auf die spanischen Wurzeln des Filmemachers zurück. Ergebnis dieser Kompromisslosigkeit ist (neben diversen, inzwischen auskurierten Krankheitserscheinungen "vom Schnupfen bis zur Blasenentzündung") eine Art der Rollenverkörperung und eine klassische Dramatik, die an ein Bühnenstück erinnern. Dieser Eindruck könnte mit der Vorlage von Ólafur Kaukar Símonarson sowie Kormákurs eigener Theaterkarriere zusammenhängen. Der Regisseur und Schauspieler hat sich in seiner Heimat Island bereits mit verschiedenen Bühnenproduktionen einen Namen gemacht, u. a. "Hair", die "Rocky Horror Picture Show" und "Hamlet". Seinen ersten Film legte Kormákur im Jahr 2000 mit "101 Reykjavik" vor.
AVIVA-Tipp: "Die kalte See" zeigt Menschen im Zwiespalt zwischen familiärer Vergangenheit und persönlicher Zukunft. Der Film lässt sich in keine Schublade einordnen. Er fesselt durch subtile Brutalität, die nichts mit actiongeladener Videospielästhetik gemeinsam hat (Picassos Guernica in Ágústs Kinderzimmer sagt mehr als jede Schießerei) und Witz, der vor allem durch die Darstellung der Figuren an Wirkung gewinnt.
Die kalte See
Island, Norwegen, Frankreich 2002. Länge: 109 Minuten
Regie: Baltasar Kormákur
DarstellerInnen: Hilmir Snær Gudnason, Gunnar Eyjlólfsson, Hélène de Fougerolles, Kristbjörg Kjeld, Sven Nordin, Gudrun Gisladottir, Elva Ósk Ólafsdóttir, Herdís Thorvaldsdóttir
Kinostart: 7. Oktober 2004
www.diekaltesee.de