Georg Büchners Komödie zwischen Rockmusical und Wachsfigurenpanoptikum - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 06.05.2003


Georg Büchners Komödie zwischen Rockmusical und Wachsfigurenpanoptikum
Gaby Miericke-Rubbert

Leonce und Lena am Berliner Ensemble - Von Zweien, die auszogen, dem Unglück zu entfliehen oder oh wie schön ist Popo




Wilson + Grönemeyer = Büchner? Die Gleichung kann nicht aufgehen. Wie sollte sie auch, wenn zwei besondere Künstlerpersönlichkeiten wie der amerikanische Theaterdesigner Robert Wilson und der vielseitige deutsche Unterhaltungsmusiker Herbert Grönemeyer sich an eine gemeinsame Inszenierung von Büchners Lustspiel wagen. Auf jeden Fall drücken beide dem Stück ihren unverwechselbaren Stempel auf, allerdings fügen die unterschiedlichen Handschriften sich nicht immer harmonisch in das Stück ein.

Besonders Grönemeyers eigens komponierte Songs wirken an manchen Stellen wie Fremdkörper und bremsen die Handlung, ohne selbige zu bereichern. Hingegen, wenn´s dröhnt, rockt, lautmalt, schnalzt, klingelt und zirpt unterstreicht die musikalische Begleitung der Szenen sehr gelungen Parodie und Komik des Stückes.

Das Live-Orchester beherrscht die grönemeyerlike fetzige Bombastik genauso wie die sensibleren Balladentöne und peitscht uns zu Beginn mit einer fulminanten Ouvertüre im Zirkusstil in einem sich rasant steigernden Tempo die Akteure zum Vorstellungsdefilée über die Bühne.
Alle bewegen sich wie Aufziehpuppen in einer bizarren, kontrolliert stilisierten Weise, ihre Gesichter sind zu Commedia-dell´arte-Fratzen geschminkt, die steil hochgestylten Haartrachten erinnern an Wilhelm-Busch-Karikaturen. Alles klar, die Show kann beginnen.

Doch was ist los im Reiche Popo? So grell, laut und temporeich wie im Vorspiel scheint es hier nicht zuzugehen:

Leonce, von Beruf Prinz, Nichtstuer und Melancholiker ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Markus Meyer läßt diesen anämischen Langweiler sehr überzeugend sich im Lebensekel verlustieren. Mit einem Funken Selbstironie an allen Ecken und Enden. Vor allem in der Begegnung mit Valerio (Stefan Kurt), seines Zeichens ebenfalls Müßiggänger und Narr mit Schlaraffenlandvision. Der talentierte Komiker Kurt wird sogleich zum Publikumsliebling.

Mit dem Duo Valerio und Leonce hat Robert Wilson tatsächlich einen äußerst komödiantischen Coup gelandet, ihr zuweilen slapstickartiges Zusammenspiel verleitet selbst eingefleischte Skeptiker zu euphorischer Begeisterung.

Lustig ist´s auch immer, wenn Leonce´ Vater, König Peter auftritt. Die Anti-Majestät trottelig und mit Konfusionen kämpfend grandios dargestellt von Walter Schmidinger, der sich täglich durch einen Knopf in seinem Schnupftuch daran erinnern muß, sein Volk nicht zu vergessen. Köstlich auch der Hofstaat, der ebenfalls mit Trivialitäten, Kalauereien und grotesken Gesten sich selbst karikiert und die Welt der Zeremonien und Etikette ad absurdum führt.

König Peter plant zum Zeitvertreib die Hochzeit seines Sohnes mit Lena, der Prinzessin des Reiches Pipi. Braut und Bräutigam wider Willen entschließen sich, unabhängig voneinander, beide zur Flucht ins expressionistisch farbig gestaltete Bühnenbild Italiens.

Lena (Nina Hoss) ist angetan von der weiten Welt jenseits ihres bisherigen Myrtenhorizonts im heimatlichen Garten und bewegt sich in romantischer Liebessehnsucht in ihren Tagträumen zwischen Fliederblättchen, zwitschernden Grashalmen und abendmüden Libellen.
Leider hat Wilson die Frauengestalten, bis auf wenige Ausnahmen, bei der Regie weitgehend stiefmütterlich allein gelassen. Hier fehlt die Komik, die Parodie, das Groteske, die weiblichen Figuren langweilen weitgehend ungebrochen mit ihrem Liebes- und Lebensleid und man weiß nicht, ob Absicht, Zeitmangel oder Unaufmerksamkeit hier verantwortlich sind.

Letztendlich verlieben sich die Königskinder in der Fremde ineinander, welch Zufall! und alle finden das große Glück wieder in Popo. Die Dekadenz und Sinnlosigkeit wird fürs Erste überdeckt und Valerio zum Minister für Müßigang ernannt.

Wilson treibt mit dieser Darstellung Büchners Kritik am gesellschaftlichen Sein auf die Spitze. Wir finden die Figuren vom Bühnenbild in alle Himmelsrichtungen eingerahmt, eingesperrt in Konventionen, bis zur menschlichen Unkenntlichkeit zu mechanisch agierenden Puppen verkümmert. Das Volk wird als dekorative Staffage zur kollektiven Melancholie und zur gemeinschaftlichen Jubelparade herbeizitiert. Selbst die Mächtigen bewegen sich zwischen Banalitäten und Todessehnsucht im monarchistischen Kreisverkehr, ohne es zu merken.

Ein Lustspiel von der besonderen Machart zwischen Puppenspiel, Commedia dell´arte, Musical und Büchner. Das komplizierte und sehr abwechslungreiche Zusammenspiel von Musik, Gestik, Licht, Bühnenbild und Inhalt bietet vielfältigen Entdeckungsstoff für die Sinne der ZuschauerInnen. Nach diesem Gute-Laune-Abend schiebt sich das Publikum euphorisiert mit leuchtenden Augen dem Ausgang zu.



Leonce und Lena von Georg Büchner
Regie, Bühne, Lichtkonzept: Robert Wilson
Musik und Liedtexte: Herbert Grönemeyer
Kostüme: Jacques Reynaud
DarstellerInnen: Nina Hoss, Stefan Kurt, Markus Meyer, Walter Schmidinger, Angela Schmid u.a.
Berliner Ensemble
Theater am Schiffbauerdamm
Bertolt-Brecht-Platz 1
10117 Berlin
Weitere Aufführungen im Mai: 10.-12., 14.-16., 31.5.2003
Karten unter: 030- 28408-0
www.berliner-ensemble.de


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Beitrag vom 06.05.2003

AVIVA-Redaktion