Paradise Now - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 04.10.2005


Paradise Now
Karin Effing

Der palästinensische Regisseur Hany Abu-Assad hat schon auf der Berlinale mit seinem Film über die letzten Tage zweier Selbstmordattentäter begeistert. Sehenswertes Werk, das nachdenklich macht.




Die Freunde Khaled und Saïd jobben im Westjordanland in einer Autowerkstatt. Die beiden Palästinenser sind seit ihrer Kindheit befreundet. Sie rauchen über der Stadt gemeinsam ihre Wasserpfeife, genießen die Aussicht und schweigen einvernehmlich.
Während die beiden Freunde entspannt auf ihrem Aussichtspunkt sitzen, zieht Khaled Saïd sanft damit auf, dass Suha ihn anscheinend möge. Er trifft damit den Nerv, denn sein Freund hat sich längst in die Tochter eines von seinen Landsleuten als Märtyrer gepriesenen und im Kampf gegen die Israelis gefallenen Freiheitskämpfers verliebt. Sie hat lange Zeit in Frankreich gelebt und ist erst kürzlich zurück in ihre Geburtsstadt gekommen.
Suhas Übergang am israelisch-palästinensischen Checkpoint stellt den Auftakt des schön fotografierten Filmes dar. Feindselige Augen starren sich in dieser Szene an, Menschen, die sich hassen, die voll Misstrauen sind und vom schlimmsten ausgehen. Während der israelische Soldat die Kleidung im Koffer untersucht, richtet ein anderer Soldat das Maschinengewehr auf die junge Frau. Ein Koffer ist nicht mehr einfach nur ein Koffer, sondern auch ein Gepäckstück, in dem sich Sprengstoff befinden kann.
Die beiden jungen Männer wurden dafür bestimmt, sich als Selbstmordattentäter in Tel Aviv in die Luft zu sprengen, jetzt ist ihre Stunde gekommen. Die voraussichtlich letzte Nacht ihres Lebens dürfen sie noch einmal im Kreise ihrer Familien in Nablus verbringen. Selbstverständlich aber muss ihr Vorhaben streng geheim bleiben, so dass ihnen ein wirklicher Abschied von ihren Angehörigen verwehrt ist. Am nächsten Morgen werden sie an die israelisch-palästinensische Grenze gebracht. Die Bomben sind von außen unsichtbar an ihren Körpern befestigt. Sie schlüpfen durch ein Loch im Zaun auf die israelische Seite, werden dann jedoch entdeckt und fliehen zurück über die Grenze. Saïd verliert dabei den Anschluss und irrt, den Sprengstoff am Leib, umher. Khaled sucht ihn verzweifelt...

Die Dreharbeiten in Nablus, im Westjordanland und Tel Aviv dauerten von April bis Juni 2004 und fanden unter erschwerten Bedingungen statt, wie der Regisseur beschreibt:
"Es war eine kranke Vorstellung, einen Film dort drehen zu wollen. Jeden Tag wurden wir dort mit anderen Problemen konfrontiert. Beide, Israelis wie Palästinenser, waren angehalten, zahlreiche Mitarbeiter zu beschäftigen. Aber mit einer solchen Entourage kann man nicht gleichzeitig drehen und weglaufen. Nicht mit 70 Leuten am Set und mit 30 Lastwagen! Einige palästinensische Hardliner hatten sogar die Vorstellung, dass wir einen Film gegen die Palästinenser drehen würden.
Wie auch immer, andere Gruppierungen und Splittergruppen unterstützten unseren Film, da sie davon überzeugt waren, dass wir uns für Freiheit und Demokratie stark machten. Trotzdem erschien eines Tages eine Fraktion, die der Meinung war, wir würden die Selbstmordattentäter in keinem guten Licht erscheinen lassen, und rief uns mit vorgehaltenen Waffen zur Beendigung der Dreharbeiten auf. Da uns aber wieder andere Kämpfer den Rücken freihielten, konnten wir weitermachen."


Trotz der schwierigen Umstände entschied sich Hany Abu-Assad bewusst, den Film mit 35-mm-Material zu drehen, obwohl es sicherlich einfacher gewesen wäre, das Projekt mit einer handlicheren Digitalkamera zu verwirklichen. Er habe einen Film machen wollen, der sich von den Bildern in den Nachrichten unterscheide, betont der Regisseur.
Schöne und eindrückliche Bilder zeichnen den Film denn auch tatsächlich aus. Sie zeigen Menschen mit ihren unterschiedlichen Motiven und ihrem Alltag. Und sie zeigen die Landschaft, den umkämpften Boden und die belebten und bedrohten Städte. Die Kamera schweift über das Häusermeer von Tel Aviv, wenn die beiden lebenden Bomben im Auto an ihren Bestimmungsort gefahren werden, und über die Hügel des Westjordanlandes. Es sind diese Bilder, die nachdenklich machen und in der Zuschauerin einen neuen Ort schaffen, an dem frische und eindrückliche Bilder möglich sind. Stille Bilder, die menschlich sind und noch nicht abgestumpft und einseitig wie die Nachrichtenbilder.

Es war der Blick zwischen Menschen mit dem der Film begonnen hat und mit dem er enden wird. Dann jedoch ist es der Blick zwischen ZuschauerIn und dem Gegenüber auf der Leinwand.
Blicke finden zwischen Menschen statt. Der Film versucht, den menschlichen Blick auf die Selbstmordattentäter zu initialisieren.
"Ich wurde gewahr, dass wir niemals die Sichtweise und Hintergründe der Täter mitbekommen. Wie konnten sie diesen Schritt vor ihren Familien und vor allem vor sich selbst rechtfertigen? Wie auch immer man über sie urteilen mag, sie haben ihre eigene, ihre ganz rationale Geschichte." teilt der Regisseur Hany Abu-Assad in einem Interview mit.

Der Film gewann in Berlin auf den 55. Internationalen Filmfestspielen den Publikumspreis sowie den Blauen Engel für den besten europäischen Film.
"Paradise Now ist eine kleine Geschichte über einen großen Konflikt - moralisch, aber nicht moralisierend, berührend, aber nicht sentimental. Ein Film, der zum Nachdenken zwingt, ohne belehrend zu sein. Ein Plädoyer dafür, dass jeder Einzelne einen Unterschied machen kann." begründete die Jury die Auszeichnung mit dem Friedenspreis von Amnesty International.
Paradise Now geht für Palästina ins Oskar®-Rennen 2005.

AVIVA-Tipp: Paradise Now von Hany Abu-Assad ist ein bewegender Film, der durch seine Menschlichkeit und seine schönen Bilder beeindruckt. Er vermeidet jede Polarisierung und wendet sich den Personen und ihren Geschichten zu und zeigt, dass Persönliches im Politischen nicht übersehen werden darf.

Paradise Now
Regie: Hany Abu-Assad
Buch: Hany Abu-Asad, Bero Beyer
DarstellerInnen: Kais Nashef, Ali Suliman, Lubna Azabal
ProduzentInnen: Hengameh Panahi, Amir Harel, Gerhard Meixner, Roman Paul, Bero Beyer
Kamera: Antoine Heberlé
Schnitt: Sander Vos
90 Minuten
Verleih: Konstantin Film
Kinostart: 29. September 2005

Weitere Infos im Netz: www.paradise-now.film.de

Bei der Bundeszentrale für Politische Bildung gibt es Unterrichtsmaterial zum Downloaden



Kultur

Beitrag vom 04.10.2005

AVIVA-Redaktion