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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 20.10.2005


Ausgelesen - Interview mit Hatice Akyün
Sharon Adler

Die Journalistin und Autorin von "Einmal Hans mit scharfer Soße" erzählt über das Leben in zwei Welten und wie sie als Türkin mit deutschem Pass lustvoll aus den Reichtümern beider Kulturen schöpft




AVIVA-Berlin: "Einmal Hans mit scharfer Soße" behandelt das Leben in zwei Welten, den Spagat zwischen Berlin und dem Bosporus. Welches sind die Rosinen, die Sie aus beiden Kulturen herausgepickt haben?
Hatice Akyün: "Rosinen herauspicken" klingt ein wenig negativ, sogar egoistisch. Ich bin gerne Türkin und Deutsche gleichzeitig und schöpfe lustvoll aus den Reichtümern beider Kulturen. Manche meiner türkischen Eigenschaften konnte ich mir nicht aussuchen, weil sie Teil meines Charakters und meiner türkisch-traditionellen Erziehung sind. Zum Beispiel mein Temperament, mein ausgeprägter Sinn für die Familie und mein Faible für Schönheitsrituale wie Augenbrauen zupfen, Olivenölhaarpackungen oder Ganzkörperwarmwachsentfernung.
Einige deutsche Tugenden, wie zum Beispiel Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Ehrgeiz habe ich im Laufe der Jahre zu schätzen gelernt. Die Türken sagen "Zeit ist immer da, warum also sich hetzen". Es ist schrecklich, ständig vor verschlossenen Türen zu stehen, weil meine Familie Pünktlichkeit nicht ernst nimmt.
Am Türkischsein gefällt mir die Kunst des Essens, Feierns und Liebens. Türken haben einen ausgeprägten Sinn für Lebensqualität, Deutsche hingegen gönnen sich selten etwas, kasteien sich oft und bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn sie es sich mal gut gehen lassen.

AVIVA-Berlin: In welcher Situation/mit welcher Intention haben Sie Ihr Buch geschrieben? Gab es einen "Auslöser" dafür? Oder haben Sie das Thema schon länger mit sich herumgetragen?
Hatice Akyün: Es gab tatsächlich einen Auslöser. Und zwar, als meine langjährige deutsche Freundin mich nach der Spiegel-Titelgeschichte "Allahs rechtlose Töchter", die ich verfasst habe, fragte, ob meine Eltern mich auch zwangsverheiraten wollten. Ich war sehr überrascht über diese Frage, weil sie meine Familie doch gut kennt. Ich habe gemerkt, dass die Deutschen oftmals ein falsches Bild von Türken in Deutschland haben. Nicht alle türkischen Frauen fristen ein freudloses Dasein. Natürlich gibt es türkische Frauen, die zwangsverheiratet werden oder von Familienangehörigen getötet werden, das leugne ich nicht. Aber das ist für mich nicht türkisch, sondern unmenschlich. Ein Ehrenmord ist eine Straftat und für uns Türken ebenfalls eine Tragödie wie auch für die Deutschen. Tausende türkischer Frauen leben in Deutschland ein ganz normales, sogar langweiliges Leben, ohne Ehrenmorde, Unterdrückung und Kopftuch. Und genau dieses Leben einer türkischen Frau und ihrer Familie wollte ich beschreiben.

AVIVA-Berlin: Wie reagieren Sie auf die Floskel: "Sie sprechen aber gut Deutsch"?
Hatice Akyün: Früher bedankte ich mich, weil ich dachte, dass es ein Kompliment ist. Später wurde ich wütend, weil die Floskel mich daran erinnerte, dass ich niemals "dazugehören" würde, egal wie angepasst ich bin und wie gut ich die Sprache spreche. Heute lache ich darüber und antworte: "Sie aber auch" oder "Wahnsinn, was das deutsche Bildungssystem doch alles hervorbringt." Aber ich kann nur deshalb so unbeschwert damit umgehen, weil ich längst angekommen bin, egal ob es die Deutschen wollen oder nicht. Ich bin ein Teil dieses Landes.

AVIVA-Berlin: Sie tragen kein Kopftuch - wie empfanden Sie die Diskussion um das Kopftuch und was sagt es für Sie aus?
Hatice Akyün: Ich werde sehr oft von meinen deutschen Freunden gefragt, was ich über das Kopftuch denke. Ich antworte ihnen, dass meine Mutter und meine älteste Schwester Kopftuch tragen, dass ich Gegner und Befürworter des Kopftuches bin, also beide Positionen gut verstehe. Deshalb kann ich mich nicht klar auf die eine oder andere Seite stellen. Ich kann nur für mich persönlich entscheiden, und ich habe beschlossen, dass ich kein Tuch tragen will. Meine Mutter trägt es, weil sie es nach über sechzig Jahren auf ihrem Kopf nicht einfach abstreifen kann. Es gehört zu ihrem Leben. Meine große Schwester trägt es, weil sie eine Muslime ist, die ihren Glauben praktiziert. Ich bin eine Türkin, die früher Kopftuch getragen hat und es ablegte, weil sie sich damit nicht wohl fühlte.

AVIVA-Berlin: Was lesen Sie zur Zeit - und warum?
Hatice Akyün: Ich lese "Im Sinkflug" vom jungen Berliner Autor Alexander Schimmelbusch. Das Buch habe ich zufällig in die Hände bekommen und bin total begeistert. Der junge Ich-Erzähler in Schimmelbuschs Debütroman ist an seinem Ende angekommen. Er ist ein erfolgreicher, deutscher Investmentbanker, der von Erfolgsdeutschen in New York. Wodkaküssen, Schlaflosigkeit in klimatisierten Hotelsuiten berichtet. Trotz Erfolg und Reichtum, findet er nur Zuflucht in der Kälte des Rationalen. Alexander Schimmelbuschs Buch kämpft gegen die Verdrängung, Selbstbetrug und Oberflächlichkeit in einer erfolgsbestimmten Zeit. Das Buch verwirrt, irritiert und fasziniert zugleich. Schimmelbusch selbst hat mit Mitte zwanzig seine erste Million als Investmentbanker verdient, verbrachte fünf Jahre als Berater bei Fusionen und Übernahmen im Dienste einer Investmentbank und versank in einem Sumpf aus Sex, Alkohol und Drogen. Er weiß also, wovon er schreibt.

AVIVA-Berlin: Auf welche Neuerscheinung sind Sie gespannt?
Hatice Akyün: Ich freue mich auf Arno Geigers Familienroman "Es geht uns gut".

AVIVA-Berlin: Welches Buch würden Sie niemals verborgen?
Hatice Akyün: "Der Fänger im Roggen" von JD Salinger. Aber nur, weil ich Anmerkungen und Notizen in meine Ausgabe geschrieben und Lieblingssätze unterstrichen habe.
"Und ich fragte mich, wer nun verrückt geworden war. Ich oder die Welt? Und ich tippte auf die Welt! Und natürlich hatte ich Recht!".

AVIVA-Berlin: Stellen Sie sich vor, Sie bekämen heute 1 Million Euro für Berlin. Welches Projekt würden Sie sofort retten oder ins Leben rufen?
Hatice Akyün: Ich würde Integration anschaulicher machen. Zum Beispiel ein Projekt ins Leben rufen, das den Namen tragen könnte: "Deutsch-türkische Liebenswertigkeiten". In kleinen Gruppen könnten Deutsche und Türken sich gegenseitig die schönen Seiten ihrer jeweiligen Kultur aufzeigen und sich näher kennen lernen. Und als Begleiterscheinung würde das Deutsch vieler Türken verbessert werden.

AVIVA-Berlin: Wen halten Sie für unterschätzt?
Hatice Akyün: Ich halte die Leistung meines Vaters von den Deutschen für unterschätzt, dass er vor über 30 Jahren seine Schafherde in Anatolien für ein Bahnticket nach Deutschland verkaufte, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, ohne jedoch zu wissen, ob es ihm auch gelingen würde.

AVIVA-Berlin: Wenn morgen Ihr erster Tag als Bundeskanzlerin wäre - welches Gesetz würden Sie sofort erlassen oder abschaffen?
Hatice Akyün: Pflichtschuljahr für türkische Kinder, bevor sie in die erste Klasse eingeschult werden.

AVIVA-Berlin: Ihr nächstes Projekt?
Hatice Akyün: Ich möchte nach Afghanistan reisen, um jene Frauen wieder zu treffen, die ich vor zwei Jahren für eine Reportage über die neu gewonnene Freiheit der afghanischen Frauen interviewt habe. Ich möchte wissen, was aus ihnen geworden ist.

AVIVA-Berlin: Ihre Visionen und Ziele?
Hatice Akyün: Dass ich nicht mehr gefragt werde, wo meine Wurzeln liegen, dass ich irgendwann ganz selbstverständlich sagen kann, dass ich Deutsche bin, ohne die Bemerkung: "Aber deutsch siehst du nun wirklich nicht aus", dass Deutsche und Türken sich problemlos in der deutschen Sprache verständigen können.

AVIVA-Berlin: Dankeschön und alles Gute für Sie und Hans!

Lesen Sie auch die Rezension zu "Einmal Hans mit scharfer Soße".


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Beitrag vom 20.10.2005

Sharon Adler