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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 30.06.2003


matchmaker matchmaker. Der Balanceakt zwischen der Sehnsucht nach Heimat und der Zwiespältigkeit von Tradition
Gaby Miericke-Rubbert

Das Projekt kombiniert eine Installation im Jüdischen Museum mit einer Performance in der Staatsbank Berlin, basierend auf dem Musical "Fiddler on the roof"




Die Installation im Jüdischen Museum von Matthias Böttger und Max Schumacher besteht aus 12 stilisierten Miniaturhäusern, welche auf stabilen Holzfundamenten thronen und überzogen sind mit buntkarierten Kunststoffplanen, wie wir sie sonst von den sogenannten "Polen-Taschen" kennen. Aufgrund ihrer Stabilität und ihres großen Fassungsvermögens werden diese international verbreiteten Taschen ansonsten von Einwanderern und Flüchtlingen genutzt, um ihre wichtigsten Habseligkeiten zu transportieren.

Indem wir durch das "Polen-Taschen-Dorf" wandern, werden wir mit den Widersprüchlichkeiten eines osteuropäischen Schtetls konfrontiert, wir assoziieren eine gewisse Rastlosigkeit und permanente Möglichkeit zur plötzlichen Weiterreise. Durch schmale Briefschlitze linsen wir in das Innere mancher Häuser und finden Videobilder sowohl von Schtetln und Metropolen vor, als auch Liedzitate aus dem Musical "Fiddler on the Roof".

Und wir entdecken uns auch selbst auf den Monitoren. Die Besucher der Ausstellung und des Dorfes beobachten das Schtetl, das Schtetl wiederum beobachtet die umherwandelnden Menschen. Die Häuser haben Augen, versteckte Kameras zeichnen das Geschehen im Schtetl auf und wir erkennen uns durch die den Blickwinkel einschränkenden Sehschlitze wieder. Die Ambivalenz von nachbarschaftlicher Kontrolle und sozialer Geborgenheit wird sichtbar.

Inspiriert wurde diese Ausstellung von den jiddischen Erzählungen Scholem Alejchems und dem Schtetl Anatevka aus dem Musical "Fiddler on the "Roof". In dem Musiktheaterstück, dem zweiten Teil des Projekts "matchmaker matchmaker", wird das globale Thema der Migration wesentlich emotionaler und daher eingänglicher beleuchtet, indem die persönlichen Erfahrungen der Schauspieler und Sängerinnen einigen Songs aus dem Musical gegenübergestellt werden. Die Erzählungen des internationalen Performer-Teams machen das Spannungsfeld zwischen Identitätssuche, Heimatlosigkeit und Aufbruch anrührend deutlich.

Der Titel des Gesamtprojekts zitiert einen Song aus dem Musical, in dem das Schtetl Anatevka Symbol für eine idyllische Vergangenheit osteuropäischer Juden vor der Schoah ist. Der "Matchmaker" war in der jüdischen Tradition der Heiratsvermittler, eine ebenso anerkannte, wie verhaßte Persönlichkeit.
Er verkörperte den Generationenkonflikt schlechthin, die Ambivalenz zwischen Traditionsverbundenheit und dem Wunsch nach Selbstbestimmung.

Die romantisierenden und idealisierenden Liedinhalte der Anatavka-Welt vom kleinen Glück und von teils überholten Moral- und Wertvorstellungen werden von der nachfolgenden Generation infrage gestellt, der Matchmaker hat als Heiratsvermittler ausgedient. Die Jugend will sich nicht mehr mit den kleinen Karos des dörflichen Glücks zufrieden geben, sie will in aller Herren Länder ihren eigenen Weg gehen, getrieben von Fernweh, Neugier und Weltoffenheit. Aber als die jungen Leute in der Welt außerhalb von Anatevka leben, spüren sie doch immer wieder eine Sehnsucht nach ihren Wurzeln und ihrer Heimat.

Die Performance spielt sich auch zwischen den Polen-Taschen-Gebäuden ab, die Spieler kommen mit ihren karierten Plastikgepäckstücken in das Schtetl und beziehen, im wahrsten Sinne des Wortes, zu Anfang ihre Häuser. Sie erzählen und singen von ihren Erfahrungen und Sehnsüchten und davon, dass sich das Gefühl von Heimat an keinem Ort auf Dauer so richtig einstellen will. Folglich ziehen sie zum Schluß die Häuser wieder ab und weiter nach Wer-weiß-wohin. Wir können am Ende nur spekulieren: Ist Anatevka überall oder nirgendwo?

Die Ausstellung ist im Jüdischen Museum noch bis zum 27 September 2003 zu begehen. Anläßlich der Langen Nacht der Museen werden in diesem Rahmen die drei Künstlerinnen des Musiktheaterstücks noch einmal Songs aus dem Musical "Fiddler on the roof" im Jüdischen Museum zum Besten geben.

Sie sollten aber auf keinen Fall als Ergänzung dazu die wunderbare und sehr berührende Musiktheateraufführung verpassen, die nur noch ein Mal bei einer Open Air Aufführung im Rahmen des Rohkunstbau Festivals am Wasserschloss in Gross Leuthen/Spreewald zu sehen ist. Am 19. Juli 2003 bringt ein Shuttlebus Sie um 16.00 Uhr vom Jüdischen Museum zum Aufführungsort. Alle Menschen, die sich von diesen wunderbaren Sängern und Schauspielern in die Welt der Migranten entführen lassen wollen, sollten mit ihnen zusammen unbedingt an diesem Tag nach Gross Leuthen ziehen. Egal ob mit groß- oder kleinkarierten Taschen.



Ausstellung "matchmaker matchmaker"
Künstlerische Leitung: Matthias Böttger, Max Schumacher
Dauer: 27.06.-27.09.2003
Ort: Jüdisches Museum Berlin
Lindenstr. 9-14
10969 Berlin-Kreuzberg
Info: 030-259 93 300

"Let´s sing" - "Matchmaker matchmaker" in der Langen Nacht der Museen
am 30 08.2003 ab 20.00 Uhr
Ort: Segment zur Gegenwart, Libeskindbau, 1. OG

Meta-Musical "matchmaker matchmaker"
Regie: Ronit Muszkatblit
Darsteller: Dana-Aliza Muszkatblit, Se-Rok Park, Julie Randall, Peter Cotton, Errol Shaker
Aufführung am 19.07.2003 um 20.30 Uhr
Shuttlebus ab dem Jüdischen Museum um 16.00 Uhr
Ort: Rohkunstbau Festival in Gross Leuthen, Spreewald


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Beitrag vom 30.06.2003

AVIVA-Redaktion