DIE SPUR (OT: POKOT). Kinostart: 4. Januar 2018. Regie Agnieszka Holland. Co-Regisseurin: Kasia Adamik. Nach dem Roman Der Gesang der Fledermäuse von Olga Tokarczuk. Kamera Jolanta Dylewska - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur Kino



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 22.12.2017


DIE SPUR (OT: POKOT). Kinostart: 4. Januar 2018. Regie Agnieszka Holland. Co-Regisseurin: Kasia Adamik. Nach dem Roman Der Gesang der Fledermäuse von Olga Tokarczuk. Kamera Jolanta Dylewska
Sharon Adler

DIE SPUR (OT: POKOT) zeichnet ein Vexierbild der patriarchalen polnischen Gesellschaft der Gegenwart. Agnieszka Hollands wagemutiger Genremix aus skurriler und mysteriöser Detektivstory, spannendem Ökothriller und politisch-feministischem Märchen wurde auf der 67. BERLINALE mit dem Alfred Bauer Preis ausgezeichnet. Im Fokus der polnischen Filmemacherin Agnieszka Holland ("Hitlerjunge Salomon", "IN DARKNESS – EINE WAHRE GESCHICHTE", "House of Cards", "Treme") steht die streitbare und exzentrische Duszejko, eine pensionierte Brückenbauingenieurin und Tierschützerin, die zurückgezogen in einem Bergdorf an der polnisch-tschechischen Grenze lebt.




Duszejko lebt selbstgewählt abgeschieden in einem Bergdorf. Sie ist charismatisch, exzentrisch, eine leidenschaftliche Astrologin, Verfechterin für die Rechte der Tiere und Vegetarierin. Eins mit sich und der wunderschönen wilden Natur, die sie unmittelbar umgibt. Ausgerechnet hier ist ein begehrtes, ein den Jägern offiziell zugestandenes Jagdrevier. Eines Tages sind Duszejkos geliebte Hündinnen Lea und Bialka verschwunden, ihre "einzigen Freundinnen, ihre Familie". Trotz intensiver Suche in den Wäldern und im Dorf bleiben die Tiere unauffindbar. In ihre Suche bindet die pensionierte Brückenbauingenieurin Duszejko auch ihre Schulklasse ein, mit der sie nachts durch die Wälder zieht. Duszejko nämlich arbeitet jetzt als Englisch-Lehrerin und wird nun für ihr Verhalten getadelt, muss sich sagen lassen, eine Frau "in ihrem Alter und in ihrer Position" solle "vorsichtig sein". Es wird im Verlauf des Films nicht die einzige Szene sein, in der Duszejko sich verteidigen muss, verteidigen gegen die Ignoranz und das herablassende Gehabe der Polizei, oder der Jäger, gegen die Obrigkeiten insgesamt.

Die renommierte Filmemacherin Agnieszka Holland kennt das aus eigener Erfahrung. Ihre Biographie ist geprägt von Ausgrenzung und Verfolgung, vom Tod des Vaters, Henryk Holland, der 1961 bei einem Verhör durch den polnischen Staatssicherheitsdienst auf bis heute nicht geklärte Weise ums Leben gekommen war, und einer katholischen Mutter, der Widerstandskämpferin Irena Rybczynska Holland, die im Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung kämpfte. Agnieszka Hollands Großeltern väterlicherseits wurden in Auschwitz ermordet.
Seit vielen Jahren äußert und engagiert sich Holland privat, öffentlich, und in ihren Filmen gegen Antisemitismus und Nationalismus, unterstützt im erzkonservativen Polen ihre lesbische Tochter, die Regisseurin Katarzyna (Kasia) Adamik, die auch als Co-Regisseurin an diesem Film mitarbeitete.

Auch in Agnieszka Hollands neuem Film "DIE SPUR" decken sich die jeweils Machthabenden gegenseitig, missbrauchen ihre Macht. Involviert sind vom Bürgermeister bis zum Polizeibeamten alle, die in dieser traumhaft schönen, aber unwirtlichen Gegend das Sagen haben. So findet auch ihr neuer Film immer wieder Hinweise an die Kollaboration der Polen mit den Nazis, aber ebenso auch mit dem Widerstand an die Gegebenheiten.

Hollands Protagonistin Duszejko, die niemals ein Blatt vor den Mund nimmt, entdeckt wenig später in einer verschneiten Winternacht ihren toten Nachbarn und bei dessen Leiche eine Hirschfährte. Nach und nach sterben weitere Männer auf mysteriöse und brutale Weise. Alle hatten ihren festen Platz in der dörflichen Gemeinschaft, alle sind passionierte Jäger. Haben wie in George Orwells prophetischen Roman "Animal Farm" wilde Tiere die Männer auf dem Gewissen und üben die gerechte Rache? Oder steckt doch ein Mensch hinter dem blutigen Rachefeldzug? Schon bald fällt der Verdacht auf Duszejko selbst, die nun ihrerseits die Verfolgung aufnimmt ...

Nach ihrem Ausflug in die Welt der Serien ("House of Cards", "Treme") meldet sich Agnieszka Holland mit diesem vieldeutigen Krimi, einem metaphorisch überbordenden Feuerwerk immer neuer Themen, auf der großen Leinwand zurück. "DIE SPUR" spielt in einer Landschaft mit wechselnden Jahreszeiten, deren wilde Schönheit jedoch nicht über Korruption, Grausamkeit und Dummheit ihrer Bewohner*innen hinwegtäuscht. Denn der Film bildet die Realität der polnischen Provinz bis auf das allerkleinste blutigste Detail so authentisch ab wie den Anarchismus seiner kämpferischen Heldin.

Der wagemutige, kreative Genremix aus komischer Detektivstory, spannendem Ökothriller und feministischem Märchen feierte im Wettbewerb der 67. BERLINALE seine Weltpremiere und wurde dort mit dem Alfred Bauer Preis ausgezeichnet. Erwähnenswert ist auch die Arbeit der Kamerafrau Jolanta Dylewska, die unsagbar schöne und ästhetische Bilder von in ein reines Blau getonten Naturaufnahmen schuf. Schmerzhaft unterbrochen werden diese stillen Schönheiten von dem Sound der knallharten Gewehrsalven, die auf sanfte Rehaugen abzielen und diese für immer vernichten.
Der Cast, allem voran Hauptdarstellerin Agnieszka Mandat, füllt ihre intensiven Rollen bis in die kleinsten Bewegungen und Regungen großartig aus.

AVIVA-Tipp: Agnieszka Holland ist mit "DIE SPUR" ein rasanter Regiestreich gelungen. Furchtlos mixt sie unterschiedlichste Themen wie Tierschutz, die (Nicht-)Wahrnehmung älterer Frauen, die unsägliche politische Situation in Polen, sexuelle Übergriffe, erzwungene Prostitution, und nicht zuletzt die allgegenwärtige Macht der katholischen Kirche, und schafft damit einen Film, dessen Botschaft allgemeingültig ist. Absolut sehenswert.

Zur Regisseurin: Agnieszka Holland, geboren am 28. November 1948 in Warschau als Tochter eines jüdischen Vaters (dem Journalisten Henryk Holland, der 1961 bei einem Verhör durch den polnischen Staatssicherheitsdienst auf bis heute nicht geklärte Weise ums Leben gekommen war) und einer katholischen Mutter (der Widerstandskämpferin Irena Rybczynska Holland, die im Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung kämpfte). Ihre Großeltern väterlicherseits wurden in Auschwitz ermordet.
Agnieszka Holland studierte Filmregie an der Prager Filmfakultät und begann ihre Karriere als Regieassistentin von Krzysztof Zanussi und Andrzej Wajda, für den sie auch Drehbücher schrieb, u.a. zu "Eine Liebe in Deutschland" (BR Deutschland / Frankreich 1983). Produzent dieses Films war Artur Brauner, der 1989/90 auch "Hitlerjunge Salomon" produziert hatte. Der Film unter der Regie von Agnieszka Holland war – gegen den Beschluss der deutschen Jury (!) für den Oscar® nominiert. Regie führte Agnieszka Holland auch bei "IN DARKNESS – EINE WAHRE GESCHICHTE" (Polen, Kanada, Deutschland 2010) über den polnischen Kleinganoven Leopold Socha, der unter Einsatz seines eigenen Lebens und das seiner Familie während des 2. Weltkriegs jüdische Flüchtlinge über viele Monate in der Kanalisation von Lvov versteckte. Agnieszka Holland inszenierte u.a. zwei Episoden der Netflix-Serie "House of Cards" und erarbeitete die Buchvorlage für "La Amiga – Die Freundin" (1987/88) für die Regisseurin Jeanine Meerapfel, außerdem führte sie Regie bei den TV-Serien "The Wire" und "Cold Case".

Offen wendet sie sich auch gegen die Ungleichbehandlung von Regisseurinnen im Filmbusiness, prangert diesen Missstand an.
DIE SPUR (OT Pokot) von Agnieszka Holland wurde mit dem Silbernen Bären Alfred-Bauer-Preis, Berlinale 2017 ausgezeichnet und war Polens Kandidat für den OSCAR als Bester nicht englischsprachiger Film 2018.

Mehr Infos zu Agnieszka Holland unter: www.imdb.com

DIE SPUR (OT: POKOT)
Regie: Agnieszka Holland in Zusammenarbeit mit Kasia Adamik
Buch: Olga Tokarczuk, Agnieszka Holland, nach dem Roman "Der Gesang der Fledermäuse" von Olga Tokarczuk
Polen / Deutschland / Tschechische Republik / Schweden / Slowakische Republik 2017
Darsteller*innen:
Agnieszka Mandat (Duszejko – Einsiedlerin und Englischlehrerin)
Wiktor Zborowski (Matoga – Der Nachbar der ein Geheimnis hat)
Miroslav Krobot (Boros – Der tschechische Insektenkundler)
Jakub Gierszał (Dyzio – Der junge Computerfreak)
Patricia Volny (Dobra Nowina/Good News – Eine junge Frau die Hilfe braucht)
Borys Szyc (Wnętrzak – Der Jagdpächter)
Stab:
Kamera: Jolanta Dylewska, Rafał Paradowski
Stills Robert Pałka
Schnitt Pavel Hrdlička
Musik Antoni Komasa-Łazarkiewicz
Sound Design Mattias Eklund
Ton Andrzej Lewandowski, Mattias Eklund
Production Design Joanna Macha
Kostüm Katarzyna Lewińska
Maske Janusz Kaleja Casting, Weronika Migoń
Production Manager Andrzej Besztak
Produzenten Krzysztof Zanussi, Janusz Wąchała. Ausführender Produzent Janusz Wąchała. Co-Produzent*innen Johannes Rexin, Pavla Janoušková Kubečková, Tomáš Hrubý, Fredrik Zander, Jakub Viktorin
Co-Produktion Heimatfilm, Köln, Nutprodukce, Prag Chimney, Stockholm, Nutprodukcia, Bratislava
Kinostart: 4. Januar 2018 im Verleih von FilmKinoText
Mehr Infos und der Trailer unter:
www.diespur-derfilm.de




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Beitrag vom 22.12.2017

Sharon Adler