CHICHINETTE – WIE ICH ZUFÄLLIG SPIONIN WURDE. Kinostart: 17. September 2020 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 14.09.2020


CHICHINETTE – WIE ICH ZUFÄLLIG SPIONIN WURDE. Kinostart: 17. September 2020
Ellen Katz

"Chichinette" - kleine Nervensäge - ist der Spitzname, den sich Marthe Cohn, geborene Hoffnung, während der Ausbildung beim französischen Militärgeheimdienst 1944 mit ihrem Wissensdurst und ihren kritischen Nachfragen redlich erwarb. Der Dokumentarfilm von Nicola Alice Hens zeichnet jetzt ihr bewegtes Leben nach.




Ganz so zufällig, wie der Untertitel "Wie ich zufällig Spionin wurde" suggeriert, war Marthe Cohns höchst erfolgreiche und mit zahlreichen Orden honorierte Mission allerdings nicht. Sie war getrieben von dem Wunsch, Teil des Sieges über Nazi Deutschland zu sein, und stieß zunächst auf Ablehnung. Als Frau, noch dazu mit falschen Papieren, die ihr Überleben als Jüdin im besetzten Frankreich gesichert hatten, wurde sie nicht ernstgenommen. Man gab ihr eine Stelle im Sekretariat. Doch wo ein Wille ist... Als ihr Vorgesetzter – und hier kommt doch noch der Zufall ins Spiel – erfuhr, dass sie zweisprachig mit Französisch und Deutsch aufgewachsen war, machte er den Weg frei für ihre Ausbildung zur Spionin. Eine richtige Entscheidung. Marthe rettete mit Klugheit, Geistesgegenwart und ihrem harmlosen "arischen" Aussehen ganze Kompanien vor einem Hinterhalt im Schwarzwald beim Einmarsch nach Nazi-Deutschland.

"Why are there no names of women listed among the heroes of the Resistance?" Marthe Cohn: "A memorial of the dead can´t have my name. After all, I´m not dead"

Schon früher hatte sie mit Mut und Organisationstalent ihrer Familie und vielen anderen jüdischen Flüchtlingen aus dem Elsass und Lothringen, woher sie selbst stammte, zur Flucht in die anfangs noch "Freie Zone" im Süden Frankreichs verholfen. Dass sie die Deportation ihrer Schwester Stéphanie im September 1942 aus dem Lager Drancy nach Auschwitz nicht verhindern konnte, hinterließ nicht nur Schmerz, sondern ebenso das Gefühl, versagt zu haben. Es blieb nicht beim Verlust ihrer Schwester. Jaques Delauney, ihr nichtjüdischer Verlobter, hatte sich der Résistance angeschlossen, wurde gefasst und mit zwei weiteren Mitkämpfern erschossen. Marthe erfuhr von seinem Tod aus der Zeitung. Sie war untröstlich und bestand trotzdem wenige Tage nach dieser Hiobsbotschaft ihr Examen als Krankenschwester.

Nach Ende des Krieges zog es sie in die damalige französische Kolonie Indochina, wohin sie mit Delauney hatte auswandern wollen. Doch nun ging sie allein und konnte sich vor Heiratsanträgen kaum retten, was sie allerdings wenig beeindruckte; die Trauer saß zu tief. Erst Major Lloyd Cohn, ein amerikanischer Medizinstudent und ihr Englischlehrer, den sie durch Freunde in Genf kennenlernte, gelang es, ihre Zuneigung zu gewinnen. Das Paar heiratete 1956 und zog nach Los Angeles, wo sie bis heute leben.

Ein Hotelzimmer ohne WIFI - für Marthe Cohn geht das gar nicht

Hier setzt der Dokumentarfilm ein, nämlich beim Aufbruch zu einer Europareise mit vielen Auftritten Marthes vor Publikum. Seit der Veröffentlichung ihrer Autobiographie (2002) Behind Enemy Lines – The True Story of a Jewish Spy in Nazi Germany, verfasst nach Jahrzehntelangem Schweigen, hat sie wenig Zeit, aber mit inzwischen einhundert Jahren noch immer genug Energie für ihre neue Mission, vornehmlich jungen Menschen ihre Erfahrungen und Überzeugungen zu vermitteln. Und das tut sie - nie ohne Wimperntusche und Lippenstift - mit ihrem manchmal spröden Charme und Bravour. Eine kleine, zierliche Frau am Arm ihres groß gewachsenen Mannes. Die Orden im Koffer aber sind die ihren.

Jeder Portraitfilm lebt von seiner Protagonistin oder seinem Protagonisten. So auch dieser, und Marthe Cohn ist eine hervorragende Erzählerin. Aber Nicola Henses einfühlsame Dokumentation hat noch mehr zu bieten. Sie lässt den Zuschauer*innen Zeit, in ihre Geschichte und deren Schauplätze in Metz, Paris, Marseille, Freiburg und den Schwarzwald einzutauchen, und hetzt uns nicht durch allzu schnelle Schnitte. Die Musik akzentuiert dezent und unaufdringlich, wie auch die animierten Passagen, die eher andeuten, als in Comic-Manier auszumalen.

AVIVA-Tipp: Sehr zu empfehlen ist nicht nur das gelungene Filmportrait einer faszinierenden und im Alter sogar noch schöneren Frau, sondern auch ihre 2018 in deutscher Übersetzung erschienene Autobiographie: "Im Land des Feindes". Manches, was der Film nur streift, wie z.B. ihre Zeit in Indochina, immerhin ein weiteres Kolonial-Kriegsgebiet, kann hier noch vertieft werden.

Zur Regisseurin: Nicola Hens, Kamerafrau, Filmemacherin und Dozentin. Studierte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, der Bauhaus-Universität Weimar und der KunstakademieToulouse, Frankreich. Während und nach dem Studium arbeitete sie als Videojournalistin und initialisierte ein interkulturelles Filmprojekt mit Schülern im Senegal.
Seit 2015 unterrichtet sie Film im Studiengang Medienkunst an der Universität Weimar und arbeitet parallel dazu als Kamerafrau, Editorin sowie an der Entwicklung und Umsetzung ihrer eigenen Stoffe mit einem besonderen Interesse für unkonventionelle Erzählformate.
Filme, die sie als Kamerafrau oder Regisseurin umsetzte wurden weltweit gezeigt und ausgezeichnet, u.a. DOK Leipzig, Jerusalem Filmfestival, Reykjavik Filmfestival, Festival die Popoli Florence, DOK NYC, Documentary Filmfestival Palm Springs, DocAviv, Dok.fest
München, Filmfest Dresden...
Der teil-animierte Dokumentarfilm "Chichinette - Wie ich zufällig Spionin wurde" ist ihr Langfilm-Debüt. Mehr Infos unter www.nicolahens.de

Filmografie
Regie (Auswahl):

2019 Chichinette - Wie ich zufällig Spionin wurde (Dok, 86´)
2014 Babuschka, wo sind die Gäste? (Dok, 16´)
2012 Far from Beijing (Dok, 30´)
2010 Geduldet (KF, 12´)
2006 Shalom Salam. Co-Regie (Dok, 52´)
2004 Trouver Chaussure ... (Dok, 7´)
2003 Omulaule heißt Schwarz. Co-Regie (Dok, 66´)

Marthe Cohn wurde am 13. April 1920 in Metz, Lothringen, als als Marthe Hoffnung Gutglück geboren. Ihre Familie engagierte sich in der Résistance. Für ihren Einsatz als Spionin erhielt sie 1945 das Croix de Guerre und 2000 die französische Militärmedaille. Das Simon Wiesenthal Center verlieh ihr im Jahr 2002 den Titel "Woman of Valor". 2014 wurde ihr außerdem das deutsche Bundesverdienstkreuz verliehen. Nach dem Krieg war sie als Krankenschwester in Indochina im Einsatz und wurde auch für diesen Einsatz ausgezeichnet. 1956 lernte Marthe Cohn in Genf über einen alten Freund ihren zukünftigen Mann kennen, einen amerikanischen Medizinstudenten, Major Lloyd Cohn. Das Paar zog 1958 in die USA, wo sie zwei Söhne bekamen und noch heute leben, in Kalifornien.

Ihre mit Wendy Holden als Co-Autorin verfasste Autobiographie "Behind Enemy Lines: the True Story of a French Jewish Spy in Nazi Germany", bereits 2002 bei Harmony Books, New York, und 2006 bei Broadway Books auf Englisch, sowie 2009 unter dem Titel "Derrière les lignes ennemies: Une espionne juive dans l´Allemagne nazie" auf Französisch bei Editions Tallandier publiziert, erschien im März 2018 im Verlag Schöffling & Co. in deutscher Übersetzung von Petra Post und Andrea von Struve.

Mehr zu Marthe Cohn:

Ein Artikel bei The Jewish Weekly vom 6.7.2018: thejewishweekly.com

United States Holocaust Memorial Museum: collections.ushmm.org

Yad Vashem: yadvashem-france.org

Videos bei You tube www.youtube.com

Ein Feature von Kerstin Zilm vom 13.5.2016: www.deutschlandfunknova.de

CHICHINETTE – WIE ICH ZUFÄLLIG SPIONIN WURDE
OT: CHICHINETTE: THE ACCIDENTEL SPY
Regie & Drehbuch: Nicola Hens
Mit: Marthe Cohn und Major Lloyd Cohn
Kamera: Nicola Hens, Gaetan Varone
Schnitt: Michéle Barbin
Musik: Raphael Bigaud, Vincent David
Produktion: Amos Geva/RBB
D/F 2019 86 Min.
Verleih: Missing Films
Mehr zum Film unter: chichinette-film.com und www.facebook.com/marthecohnchichinette

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin

Marthe Cohn - Im Land des Feindes. Eine jüdische Spionin in Nazi-Deutschland
Nach mehr als sechzig Jahren schildert die als Marthe Hoffnung Gutglück 1920 in Metz geborene Holocaustüberlebende und Widerstandskämpferin in ihrer Autobiographie, wie sie undercover an wichtige Informationen zu den Truppenbewegungen der Nazis gelang, und diese an die Franzosen schmuggeln konnte. (2019)

Fannys Reise
Fanny Ben-Ami, 1930 in Baden-Baden als Fanny Eil geboren, rettete als 13 Jährige auf der Flucht durch Frankreich und Italien in die Schweiz 28 Kinder vor der Deportation, darunter ihre zwei jüngeren Schwestern, Erika und Georgette. Der Spielfilm von Lola Doillon basiert auf den im Buch "Le Journal de Fanny" veröffentlichten bewegenden Erinnerungen der heute in Israel lebenden Autorin und Künstlerin. (2018)

Valentine Goby - Kinderzimmer
Der im Frühjahr 2017 in deutscher Sprache erschienene Roman der französischen Autorin Valentine Goby, der im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück angesiedelt ist, wird nun nach dem Prix des Libraires im Jahr 2014 mit einem weiteren Literaturpreis ausgezeichnet: Dem "Annalise-Wagner-Preis 2017" der Stiftung in Neubrandenburg. (2017)

Germaine Tillion - Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie
Die französische Ethnologin Germaine Tillion war eine der großen intellektuellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Am 30. Mai 2017 hätte sie ihren 110. Geburtstag gefeiert. In "Die gestohlene Unschuld" werden im AvivA Verlag erstmals von ihr geschriebene Fragmente zu einem autobiographischen Gesamtwerk zusammengefügt. (2017)

"Die Kinder von Paris", ein Film von Rose Bosch
Die "Rafle du Vel`d`Hiv`" - jene am 16. Juli 1942 von französischen Polizisten durchgeführte Massenrazzia unter der jüdischen Bevölkerung von Paris - thematisiert die Regisseurin in diesem bewegenden Drama. (2011)

Simone Veil - Und dennoch leben. Die Autobiographie der großen Europäerin
Die französische Politikerin, Frauenrechtlerin und Auschwitz-Überlebende gewährt Einblicke in ihr berührendes privates und bewundernswertes politisches Leben. Versöhnung, Hoffnung, Integrität und Mut zeichnen bis heute diese Ausnahmepolitikerin aus, die stets gegen alle Widerstände unbeirrbar ihren Weg gegangen ist. (2009)


Kunst + Kultur

Beitrag vom 14.09.2020

AVIVA-Redaktion