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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 06.10.2020


EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN. Kinostart 8. Oktober 2020
Ellen Katz

Der französische Spielfilm von Jean Paul Salomé mit Isabelle Huppert basiert auf dem Krimi "La Daronne" von Hannelore Cayre. Sein deutscher Verleihtitel betont das komödiantische Element der Geschichte einer ungewöhnlichen Karriere, die im richtigen Leben ein Wunschtraum bleiben dürfte. Aber was wäre der Alltag ohne ein bisschen Utopie?




Glänzend besetzt mit Isabelle Huppert und Hyppolyte Giradot, aber kein Starvehikel

In der Tat bietet die Verfilmung von Cayre´s Roman - sie schrieb auch das Drehbuch mit - Isabelle Huppert als Patience Portefeux, einer genervten und schlecht bezahlten Arabischübersetzerin beim Pariser Drogendezernat, eine Bühne, ihr komödiantisches Talent voll auszuspielen. Sicher eine willkommene Abwechslung für die großartige Schauspielerin, die so oft auf die komplizierten, zickigen Protagonistinnen festgelegt wird. Sie verleiht ihrer Rolle dabei die Eleganz und den Glamour, das Tempo und die Leichtigkeit, die bessere französische Komödien auszeichnen, aber sie auch - so der oft erhobene Vorwurf – allzu oberflächlich kommensurabel machen. Doch schon nach kurzer Zeit zeichnet sich hier erfreulicherweise eine substanziellere Grundierung unter der Politur ab, auch wenn die großen Themen wie der Postkolonialismus mit seinen sozialen Verwerfungen nur angerissen werden.

Patience hat finanzielle Probleme. Wie ihre echten Kolleginnen in Frankreich. Jean Paul Salomé hat sorgfältig recherchiert: Juristische Dolmetscher_innen wurden vom Justizministerium aus dem Budget für "Briefmarken und Umschläge" bezahlt. Es gab keine Beiträge zur Altersvorsorge. Das hat sich erst vor kurzem geändert. Es erklärt, warum Patience sich Sorgen um ihre Zukunft macht. Sie ist Witwe, muss zwei erwachsenen Töchtern die Ausbildung finanzieren, und das Pflegeheim für ihre demente und zuweilen recht garstige Mutter (Lilliane Rovére) ist teuer. Mit den Zahlungen ist sie im Rückstand, und ihrer Mutter droht der Rauswurf. Beim routinierten Abhören von Gesprächen zwischen Drogendealern entdeckt sie, dass der Sohn von Khadidja (Farida Ouchani), der Pflegekraft ihrer Mutter involviert ist und warnt diese vor dem Zugriff. Plötzlich eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten, dem finanziellen Elend zu entgehen, und Patience steigt zur Daronne, zur Patin und Haschischgroßhändlerin auf.

Ganz fremd ist ihr die krumme Tour indes nicht. Als Tochter von Pieds Noir, Algerien-Franzosen, auf die im Mutterland keiner gewartet hatte, lernte sie früh von ihren Eltern, sich durchzuschlagen ohne Rücksicht auf die Legalität. Der jetzige, heimliche Berufswechsel ist natürlich nicht ohne Risiko. Ihr Vorgesetzter und Verehrer Philippe (Hippolyte Giradot) versucht, die geheimnisvolle Frau dingfest zu machen, die ihm immer wieder entwischt. Er hat zwar einen Verdacht, aber das würde seine Wüsche nach einer festeren Beziehung zu Patience sabotieren. Deren ebenfalls sehr geschäftstüchtige chinesische Vermieterin Colette Fo (Jade Nadja Nguyen), die sie inzwischen durchschaut, wird nach Khadidja unerwartet zu einer weiteren Verbündeten und macht ihr ein Angebot, das Patience nicht ablehnen kann…So viel weibliche Raffinesse und - wenn auch nicht ganz uneigennützige - Solidarität lässt die Männer ziemlich vertrottelt aussehen. Wie das matriarchale Dreigestirn das anstellt, ist gleichermaßen spannend wie amüsant anzuschauen - im besten Sinne intelligente Unterhaltung.

Und dann kommt doch noch einmal mehr Ernsthaftes ins Spiel. Patiences Mutter liegt im Sterben, sie hält die Hand ihrer Tochter, die an ihrem Bett sitzt. In diesem Moment der Nähe sagt die alte Frau plötzlich: ´Ich bin koine Meschuggene, iach farsteh als. Iach bin noch nicht toit´ im reinsten Jiddisch. Eine andere Geschichte wird da angedeutet, die noch zu erzählen gewesen wäre. Ich zumindest hätte sie gern gehört.

AVIVA-Tipp: Ein Film nicht nur für Isabelle Huppert Fans, der die Balance zwischen temperamentvoller Krimikomödie mit Thriller Touch und ungeschöntem Realitätsbezug gekonnt zu halten versteht.

Zum Regisseur: Jean-Paul Salomé wurde 1960 in Paris geboren. Er studierte Filmwissenschaft an der Sorbonne, bis er sein Studium abbrach, um 1981 an Claude Lelouchs Film EIN JEGLICHER WIRD SEINEN LOHN EMPFANGEN als Aushilfe mitzuarbeiten. Nach einigen Dokumentationen erfolgte 1991 Salomés erste fiktionale Regiearbeit für den Fernsehfilm "Crimes et Jardins", für den er auch das Drehbuch schrieb. Sein Kinodebüt feierte er mit der französischen Komödie RACHE IST WEIBLICH, für den er beim Festival du Film Policier de Cognac den Jurypreis erhielt. DIE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN ist sein aktueller Kinofilm. Wie schon einige der deutschen Filmtitel verraten, hat er ein Faible für starke Frauenfiguren. Als er das Buch ´La Doronne´ von Hannelore Cayre las, war er sofort begeistert und bot ihr die Zusammenarbeit beim Schreiben des Drehbuchs an.
Filmografie
Regie (Auswahl):
2020 Eine Frau mit berauschenden Talenten
2013 Je fais le mort
2010 Das Chamäleon
2008 Female agents – Geheimkommando Phoenix
2004 Arsene Lupin
2001 Belphegor – das Phantom des Louvre
1994 Rache ist weiblich

Zur Autorin: Hannelore Cayre, geboren 1963 in Neuilly-sur-Seine, die ihren wenig französischen Vornamen ihrer österreichischen Mutter verdankt, war zunächst in der Filmbranche tätig. Den Job als Finanzchefin einer Filmproduktionsfirma gab sie zugunsten der Juristerei auf und wurde Strafverteidigerin. Sie hat mehrere Drehbücher geschrieben und eigene Kurzfilme realisiert. Seit 2004 veröffentlichte sie fünf Romane. «Der Lumpenadvokat» (2007, «Commis d´office, 2004) und «Das Meisterstück» (2008, «Toiles de maître», 2005). «Commis d´office» hat Hannelore Cayre selbst verfilmt. Ihr bisher letzter Roman «La daronne» (2017, «Die Alte») wurde mit dem Prix du polar européen und dem Grand Prix de littérature policière ausgezeichnet. Hannelore Cayre lebt in Paris.

EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN
OT: LA DARONNE
Regie: Jean-Paul Salomé
Drehbuch: Hannelore Cayre und Jean-Paul Salomé in Zusammenarbeit mit Antoine Salomé
Kamera: Julien Hirsch
Schnitt: Valérie Deseine
Ton: Laurent Poirier, François Dumont, Thomas Gauder
Regieassistenz: Mathieu Thouvenot
Produktionsleiter: Philippe Hagege
Drehbuch Supervisor: Christine Richard
Casting: Juliette Denis
Szenenbild: Françoise Dupertuis
Kostümbild: Marité Coutard
Musik: Bruno Coulais
Ausführende Produzent_innen: Kristina Larsen, Jean-Baptiste Dupont
Koproduktion: Geneviève Lemal
Produzentin: Kristina Larsen

Kinostart: 8. Oktober 2020
Mehr zum Film unter: www.eine-frau-mit-berauschenden-talenten.de und www.facebook.com/EineFraumitberauschendenTalenten

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Beitrag vom 06.10.2020

AVIVA-Redaktion