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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 14.02.2002


Interview mit Catherine Millet
Anne-Catherine Coppens

Die Autorin des Romans "Das sexuelle Leben der Catherine M." und Chefredakteurin der Art Press ist nicht nur Schriftstellerin, sondern gilt auch als Yves Klein-Expertin.




AVIVA-BERLIN traf die 53jährige im Berliner Four Seasons Hotel zum Gespräch.

AVIVA-Berlin: Wenn man ein kurzes Resümee nach der Veröffentlichung des Buches zieht, und sich die Kritiken anschaut, findet man sehr oft, ja sogar überall, die gleichen Formulierungen wie die "lineare Dramaturgie", die "eiskalte Monotonie", die "klinische Rohheit", die "pornographische Sprache", die "Provokation", der "Exhibitionismus einer Frau, die über ihre sexuelles Leben spricht", oder gar einfach "Sex". Wenn Sie diese Kritiken lesen und sich die Reaktionen anhören, fühlen Sie sich "verstanden" in Ihrem Projekt? Fühlen Sie sich bestätigt in dem, was Sie geschrieben haben?
Catherine Millet: Es ist schwer, eine globale Antwort darauf zu geben. Die Anzahl der Leser - 300000 sind es allein in Frankreich - schließt eine große Diversität ein. Ich sage zwar oft, ich wäre keine Demagogin, aber (lacht) ich habe den Eindruck, dass die Reaktion des Publikums im weitesten Sinne des Wortes - ob spontane Reaktionen in den Begegnungen, so wie gestern Abend (Lesung bei ), oder einfach auf der Strasse - eine viel "bessere" Lektüre des Buches beweist, als manche Zeitungsartikel es glauben lassen.
Zum Thema "falsche" oder "richtige" Lektüre des Buches: Die richtigste war für mich die von Philippe Sollers , einem französischen Journalisten von "Le Monde". In einigen Artikeln, nicht nur in Le Monde, und in Interviews hat er die Sache - aus meiner Sicht - sehr richtig zusammengefasst, in dem er sagte (Lächeln):
Na gut, Männer haben sich schon immer Fragen über die "Black Box" der weiblichen Sexualität gestellt. Catherine Millet hat jetzt diese Box ein wenig geöffnet und man muss einfach feststellen: Da drin gibt es nicht viel!!! Also,es gibt wenig zu entdecken (Lachen)...
Genau das ist meine Intention: Den Mythos zu entmystifizieren.
Ich glaube nicht, dass es ein Geheimnis gibt, weder in dem weiblichen noch in dem männlichen sexuellen Spaß, aber wir stehen ja alle vor diesem großen Enygme des Spaß des anderen: Hat der andere mehr, weniger Spaß als ich? Hat der Mann, den ich liebe, mehr Spaß mit einer anderen Frau als mit mir, und umgekehrt für einen Mann, hat die Frau, die ich liebe, mehr Spaß mit einem anderen Mann als mit mir? Man wird sich immer diese Frage stellen...

AVIVA-Berlin: Auch unabhängig vom anderen Geschlecht? Was ist, wenn eine Frau mit einer Frau zusammen ist, oder ein Mann mit einem Mann? Stellt man sich auch dann diese Frage, ob es noch dieses Rätsel zu dem Spaß des anderen gibt?
Catherine Millet: Nein, ich glaube, das ist mehr von einem Geschlecht zu dem anderen, immerhin...

AVIVA-Berlin: .. immerhin ist es aber keine Selbstverständlichkeit..
Catherine Millet: Nein, sicherlich nicht.. aber so meinte ich das.

AVIVA-Berlin: Ich bin zwar fest von Ihrer Fähigkeit überzeugt, sehr wahrheitsgemäß, ehrlich und, sagen wir, pragmatisch zu berichten, was Sie erlebt haben. Jetzt möchte ich jedoch Sie in die Lage versetzen zu abstrahieren. Wie würden Sie als Kritikerin über ein solches autobiographisches Projekt einer Frau, die ihr Sexleben so methodisch und stringent berichtet, reagieren? Was würden Sie darüber schreiben?
Catherine Millet: Wenn ich ein mehr oder weniger ähnliches Buch zu rezensieren hätte?

AVIVA-Berlin: Ja, genau!
Catherine Millet: Ääh.. Ich glaube, ich würde zuerst mal die literarische Qualität beurteilen.. Als ich letzte Woche Paris verlassen habe, habe ich ein Buch über das Sexualleben der Franzosen bekommen. Ich habe es aber nur durchgeblättert. Der Autor hat viele Interviews durchgeführt. Leute, die über Ihr Leben erzählen, und das ist immer sehr interessant. Aber - und vielleicht deswegen interessiere ich mich für Literatur - ich denke, dass Literatur, also die Gestaltung durch eine künstlerische Arbeit, der Stil des Schreibens, es erst ermöglicht, in der Suche der Wahrheit weiter zu gehen. Ich glaube nicht, dass ein rohes "Zeugnis", eine spontane Aussage, egal wie ehrlich sie ist, eine richtige Wahrheit enthält. Ich denke, um diese Wahrheit zu erreichen, muss man eine Arbeit leisten - also wenn man schreibt, eine Schreibarbeit. Als Kritikerin schätze ich zuerst die literarische Qualität, um mehr oder weniger dem richtigen Inhalt zu vertrauen.

AVIVA-Berlin: Um Wahrheit handelt es sich in Ihrer Arbeit sehr. Sie bemühen sich darum, ehrlich zu sein. Ist das der Grund, warum Sie unter Ihrem Namen geschrieben haben? Warum haben Sie nicht unter einem Pseudonym geschrieben? Ihr Name ist ja schwer trennbar von Ihrem Beruf, Ihrer Funktion, Ihrer beruflichen Reputation, und ich frage mich, ob der Name eine Rolle spielt, wenn Sie letztendlich über die weibliche Lust schreiben wollten, hätte nicht einfach der Bericht einer Frau gereicht?
Catherine Millet: Nein, ich habe immer gesagt, mit meinem Namen will ich sogar mehr Glaubwürdigkeit einbringen. Gerade weil ich einen beruflichen Ruf hatte, könnte man denken, dass ich ein Risiko eingehen würde, indem ich dieses Buch veröffentlichte. Im Endeffekt geht man solche Risiken nur ein, wenn sie es einem wert sind. Und genau das ist es für mich. Ich hatte ehrlich gesagt auch keinen Grund, mich zu verstecken, nicht vor einer beruflichen Instanz, oder vor einer Familie, die ich nicht habe. Vor keiner dieser moralischen Autoritäten. Was hätte also ein Wandschirm, ein Pseudonym gebracht? Weiß ich nicht. Es war wichtig für mich, als Unterzeichnerin des Buches zu erscheinen, gerade weil ich nicht in der Sexbranche beschäftigt bin. Ich bin eine normale Frau, bin Journalistin, in der klar definierten Spezialisierung der zeitgenössischen Kunst. Es war mir wichtig zu zeigen, dass man eine solche Sexualität führen kann, auch neben einer beruflichen Karriere, wie viele andere Frauen auch, ohne eine Sex-Fachfrau zu sein!! Es gibt viele Berichte in Frankreich, wie zum Beispiel den von Raffaela Anderson in Frankreich, die über ihre Porno-Karriere erzählt. Es wird sicherlich anders wahrgenommen - man sieht, dass ich keine Karriere darin gemacht habe, sondern woanders. Ich bin eine Bourgeoise, voilà.. (lacht).

AVIVA-Berlin: Zwischen nicht verstecken müssen und zeigen wollen gibt es aber eine große Skala. Hatten Sie ein anderes Bedürfnis, dieses Buch zu schreiben, als nur die männlichen Fragen über die weibliche Sexualität beantworten zu wollen? Sie sagten, dass Sie dieses Buch geschrieben haben, weil Sie von Ihrer männlichen Umgebung aufgrund Ihrer Erfahrung aufgefordert wurden, eine Antwort zu publizieren..
Catherine Millet: Selbstverständlich habe ich die Idee des Buches selbst gehabt, es war nicht nur auf die dringende Bitte meiner Umgebung, aber ich wollte dadurch diese Antwort an Männer geben, indem ich das Einverständnis anderer Frauen gesucht habe. Ich meine damit: Mein persönlicher Bericht hat korrigiert, widersprochen und nuanciert, was bisher über das weibliche Sexualleben gesagt worden ist und bisher sehr oft von Männern dargestellt wurde...(lacht) Ein Einverständnis... wenn ich zum Beispiel im Publikum sehe, wie einige Frauen zustimmend den Kopf schütteln!

AVIVA-Berlin: .. sicherlich nicht feministische Frauen...
Catherine Millet: .. in Deutschland spielen sie sicherlich eine größere Rolle, aber ich verstehe kein Deutsch! In Frankreich habe ich nichts dazu gelesen.. In den USA ist das Buch noch nicht erschienen, das wird auch interessant. In der amerikanischen Vogue - und da sind kaum emanzipierte Frauen vertreten - (lacht) war der erste Artikel äußerst positiv.

AVIVA-Berlin: Sie sagen zweimal in Ihrem Buch, "mit einer Frau hat es weniger Folgen", einmal sagen Sie es selbst, einmal sagt es eine Freundin von Ihnen. Was meinen Sie damit? Warum ist es so für Sie?
Catherine Millet: (amüsiert und vergnügt) Ah!! (Große Pause) Sie lassen mich über Dinge nachdenken, worüber ich noch nicht nachgedacht habe!! Ich glaube, ich hätte nicht den Eindruck, einen Geschlechtsverkehr mit einer Frau völlig zu erfüllen..

AVIVA-Berlin: Das sehen Sie also sehr unter dem physischen Blickwinkel..
Catherine Millet: Ja, genau, weil es kein Eindringen gibt.. Heutzutage, in unseren Mentalitäten, aus der Sicht heterosexueller Frauen, wird Geschlechtverkehr mit einer anderen Frau oft nicht als vollständig betrachtet werden.. Wissen Sie, es gibt zur Zeit ganz interessante Diskussionen. Auch die Clinton-Affäre hat dazu beigetragen. Gab es Geschlechtverkehr, ja oder nein? Oder war es nur eine Fellatio? In Frankreich wurde das Gesetz überarbeitet. Zum Beispiel kann es nur eine Vergewaltigung geben, wenn es ein Eindringen bei dem Verkehr gab, egal, welches Objekt dazu gebraucht wurde... Das ist ja eine bedeutende Frage, die junge Mädchen auch sehr beschäftigten, die sich schützen wollen: Ab wann gibt es dann überhaupt Geschlechtverkehr?? Geschlechtverkehr wird gegebenenfalls abgelehnt, Fellatio eher weniger... Danach stellt man fest, dass es vielfältige Definitionen dafür gibt.. (lacht)

AVIVA-Berlin: Im Endeffekt soll jeder für sich entscheiden, ab wann es Geschlechtverkehr gab oder nicht.
Catherine Millet: Ja, genau!

AVIVA-Berlin: Ich komme auf Rafaella Anderson zurück und auf all die Schriftstellerinnen, die den Verlagen in Frankreich zur Zeit schöne Tage bescheren wie Christine Angot, Catherine Breillat, Virginie Despentes.. Fühlen Sie sich irritiert, wenn man Sie in den gleichen Sack steckt?
Catherine Millet: Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Mein Buch nimmt auch seinen Platz in dieser Bewegung ein. Ich habe eine große Sympathie für Christine Angot, die bewundere ich sehr, genauso wie Catherine Breillat übrigens. Ich fühle mich sehr solidarisch dabei.

AVIVA-Berlin: Diese Bücher benutzen aber eine sehr pornographische Sprache, das ist eigentlich nicht Ihre Vorgehensweise..
Catherine Millet: Sicher gibt es bei mir keine Gewalt oder Aggressivität, ich habe nicht die gleiche Einstellung. Aber sie haben alle recht, das zu tun, was sie tun.

AVIVA-Berlin: Nach dem Riesenerfolg Ihres Buches ist es höchstwahrscheinlich, dass einige Filmproduzenten sich an Sie wenden werden... Können Sie sich vorstellen, das Buch verfilmen zu lassen, in den Kinos zu zeigen?
Catherine Millet: Es gab einige Kontakte, die noch nichts Konkretes ergeben haben. Ich habe einige Zweifel, aber warum nicht, vielleicht habe ich nicht ausreichend Vorstellungsvermögen dafür.. Ich habe keine Ahnung, wie das aussehen könnte. Ich bin allerdings sehr neugierig, ich möchte gerne sehen, was Profis daraus machen würden.Ich denke, dass ich sogar kaum darauf Einfluss nehmen würde, ich würde sie mit großer Neugierde machen lassen. Ich finde das sehr interessant - wie würden sie das verwandeln??

AVIVA-Berlin: Also keine stringente Adaption?
Catherine Millet: ...Nein .. eher eine Verwandlung..

AVIVA-Berlin: Könnten Sie sich vorstellen, in diesem Film Ihre Rolle zu spielen?
Catherine Millet: (schallendes Gelächter) Nein, nein... (kurzes Schweigen, überlegt) .. nein, a priori, nein.. ich möchte diesen Abstand mit der Adaption behalten und dass meine physische Person auf dem Bildschirm nicht erscheint.

AVIVA-Berlin: Ein Film wäre noch etwas anderes, etwas mehr, wie eine Parallele, ein neuer Blickwinkel. Und gleichzeitig würden die Bilder das Vorstellungsvermögen der Zuschauer unmittelbar reduzieren.
Catherine Millet: Sie haben völlig recht. Außerdem würde meine eigene Person im Film nur die Identifikation mit Catherine M. verstärken... Im Gegenteil habe ich jetzt den Eindruck, nach der Veröffentlichung, der Mediatisierung des Buches und so weiter, dass ich mich eher davon entferne.

AVIVA-Berlin: Merci.



Lesen Sie hierzu auch die Rezension des Romas von Catherine Millet "Das sexuelle Leben der Catherine M."


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Beitrag vom 14.02.2002

AVIVA-Redaktion