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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 11.08.2008


Sigrid Simon – Vergewaltigt leben
Tatjana Zilg

Die erschütternde Wirklichkeit des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tatbestand Vergewaltigung spiegelt die Autorin in fünf Porträts von betroffenen Frauen verschiedenen Alters. Diese ergänzt ...




... sie im Reportagestil mit vielen Hintergrundinformationen und soziologischen Erkenntnissen.

Beim Lesen stellt sich schnell ein Schaudern ein, denn die geschilderten persönlichen Erfahrungen zeigen, dass sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere im polizeilichen Bereich wenig geändert hat und die Vorurteile gegenüber den Opfern oft groß sind.
Da wird von einer Frau verlangt, sich auf dem Revier vor einem männlichen Beamten auszuziehen, obwohl ein gesetzlicher Anspruch darauf besteht, die körperliche Untersuchung im Krankenhaus vornehmen zu lassen. Ein vierzehnjähriges Mädchen wird von einem Mann auf der Straße angesprochen, der eine Bekanntschaft vortäuscht. Wenig später zwingt er sie, K.O.-Tropfen zu trinken, die einen Zustand ähnlich der Bewusstlosigkeit hervorrufen. Da sie aber nur 24 Stunden lang im Blut nachweisbar sind, wird deren Einsatz oft angezweifelt. Nicht selten wird den Betroffenen Drogenkonsum unterstellt. Die Autorin zeichnet einige Befragungen nach, die Verhören gleichen, hier wird das Opfer zur Täterin gemacht. So wird eine detaillierte Darstellung des Tathergangs erfragt, die die Opfer aber häufig nicht mehr rekonstruieren können, was zur Folge hat, dass sie als unglaubwürdig bezeichnet werden. Welchen Stress das für die Mädchen und Frauen bedeutet, beschreibt die Autorin einfühlsam und schonungslos zugleich.

Die fünf Porträts dokumentieren Vergewaltigungen durch Fremdtäter, im S-Bahn-Gelände, auf einem Kinderspielplatz, in der Wohnung des Täters, auf der Dorfstraße und im Treppenhaus eines Siedlungsheims. Das ist erschreckend und lässt das Trauma-Erleben in hoher Intensität nachvollziehbar werden. Dabei berücksichtigt sie aber nicht ausreichend, dass statistisch gesehen ein Großteil der Täter aus dem Umfeld der Betroffenen kommt. In einem Fall ist das Vergewaltigungsopfer Nachfolgetaten in der Familie und der Partnerschaft ausgesetzt, in einem anderen wird anhand der Mutter der Aspekt der häuslichen Gewalt in der Ehe miteinbezogen.

Positiv ist, dass den meisten der porträtierten Frauen durch eine entsprechende Therapie und oft auch durch partnerschaftliche sowie familiäre Unterstützung ein Weg geebnet wurde, trotz dem Geschehenen wieder mit dem Leben klar zu kommen und die seelischen Wunden zu überwinden. Die Autorin gibt dazu viele nützliche Informationen. Zum Beispiel sieht das Opferentschädigungsgesetz vor, dass Opfer von Gewaltdelikten, die erwerbsunfähig, hilflos oder pflegebedürftig sind, Schutz vom Staat in Form von Geldleistungen und Therapie-Kostenübernahmen erhalten.

Eine wesentliche Ursache für den harschen, verletzenden Umgang mit vergewaltigten Frauen sieht die Autorin im Vergewaltigungsmythos. In wissenschaftlichen Studien wurde nachgewiesen, dass um das Thema Vergewaltigung nach wie vor Mythen ranken, die über Zeitalter, Ländergrenzen, Klassenunterschiede hinweg im kollektiven Bewusstsein fortbestehen. Dem Opfer wird eine Mitschuld zugeschrieben, jedes Indiz wie Zu-Wenig-Weinen, modische Kleidung, Wahl des Aufenthaltsortes wird dazu verwendet. Psychologischer Wirkungsmechanismus ist die kollektive Abwehr von Schuld und Verantwortlichkeit.

"Opfer abwertende Mythen können sozialen Zusammenhalt herstellen: Wenn alle Schuld beim einzelnen Opfer liegt, was hat dann die Gesellschaft damit zu schaffen? Das Opfer wird isoliert, seine Schuld ist Kitt für den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Es gibt religiöse, soziale, historische Mythen, manche gehen unter, tauchen wieder auf, manche vermischen sich", so die Autorin.

AVIVA-Tipp: Ein ausgesprochen lebendig geschriebenes Buch, das mit einem Thema konfrontiert, dass unangenehm ist und oft zu schnell in die Ecke gedrängt wird. Es ermutigt zur Auseinandersetzung und gibt Hoffnung auf neue Wege im Umgang, denn die Willenskraft der Frauen zum Überleben beeindruckt sehr.

Zur Autorin: Sigrid Simon studierte in Dublin und Berlin. Seither arbeitet sie als Autorin für das Fernsehen. Dieses Buch ist das Ergebnis einer Recherche mit vergewaltigten Frauen für das ARD-Magazin "Kontraste" - die Reaktion auf diese Sendung im November 2007 war sehr groß und die Autorin arbeitete diese in das Buch ein. Sigrid Simon lebt in Berlin.

Sigrid Simon
Vergewaltigt leben

Verlag: transit, erschienen Frühjahr 2008
Französische Broschur gebunden mit Schutzumschlag, ca. 140 Seiten
ISBN 978-3-88747-231-3
12,80 Euro


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Beitrag vom 11.08.2008

AVIVA-Redaktion